Peter Wagner: Die Burgenbürger
Homo Suellensis Pannoniae
Edition Marlit, 2009
568 Seiten / Hardcover / Format: 150 x 215 mm
ca. 200 Illustrationen in Farbe und SW / Illustrationen: Henryk Mossler
ISBN: 3-213-00087-6
Preis: EUR 34,10
HOCH DIE MEHRFACHIDENTITÄTEN
Eine kleine Fred-Sinowatz-Hommage im Bruno-Kreisky-Jahr
Drei Politiker-Grundmuster könne man unterscheiden: Intellektuelle, Urgesteine und Technokraten. Ich erinnere mich, dieses Schema in einem «Wiener Zeitung»-Essay gelesen zu haben, wo auch festgestellt wurde, dass man mit Intellektuellen in der Regel keine Wahlen gewinnen könne und dass Bruno Kreisky als die große Ausnahme dieser Regel galt. Inzwischen ist das Bruno-Kreisky-Jahr angebrochen. Der Mythos vom «letzten Intellektuellen» an der sozialdemokratischen Spitze wird überstrapaziert werden – als ob ihm mit Fred Sinowatz nicht ebenfalls ein Geistesmensch an den Ballhausplatz nachgefolgt wäre. Den schönsten Text über die Hauptgefahr, in der sich die österreichische Gesellschaft befindet, nämlich die (nach Adorno immer wieder zu Auschwitz führende) soziale Kälte, die mit dem «Ausländerdiskurs» einhergeht, hat Fred Sinowatz geschrieben. Er ist aus dem Jahr 1997. Im Vorwort eines von Traude Horvath herausgegebenen Bändchens über die Mehrfachidentitäten der ÖsterreicherInnen erinnert sich Sinowatz an die unkonventionelle Art eines amerikanischen Soziologen oder Politologen oder Ethnologen, die wundersame Hybridisierung der burgenländischen Bevölkerung anschaulich darzustellen. Er tat dies mithilfe einer Burgenland-Karte, in der die Gemeindegrenzen eingetragen waren. «Bei jeder der Gemeinden», schrieb Fred Sinowatz, «trug er mit verschiedenen Farben die unterschiedlichen sprachlichen und konfessionellen Bewohner der jeweiligen Gemeinde ein, also die deutschsprachigen, die kroatischsprachigen und die ungarischsprachigen, sowie die Katholiken, die Protestanten, die Reformierten sowie die historischen Juden und Roma. Als er mit seiner Karte fertig war, ergab sich für mich ein überraschender Anblick. Ich fand fast keine Gemeinde, in der es nicht eine Minderheit gab. Es war ein unwahrscheinlich buntes Bild, das sich mir bot. Natürlich wusste ich von der sprachlichen und konfessionellen Vielfalt des Landes (der Burgenländer Fred Sinowatz war damals, zur Zeit dieser Verblüffung, also in den 50er Jahren, im Eisenstädter Landesarchiv tätig, die Red.), aber ich hatte diese Buntheit noch nie so plastisch vor mir gesehen.» Mit diesem Aha-Erlebnis sei ihm der Wert des Miteinanders anstelle des Nebeneinanders eingebrannt worden. Kann man sich vorstellen, von einem Sozialisten namens Häupl eine derart empathische Liebeserklärung an Favoriten zu hören, die auf einem analogen soziologischen Vergleich der Sprengeln des 10. Bezirks basiert? Das «Miteinander» ist längst durch den Imperativ «Integrieren!» ersetzt, das Rufzeichen gilt immer nur den Minderheiten. Der Kroate Müller & der Deutsche Trenowatz In Sinowatz entstand das Bild einer Menschenlandschaft, in der die Vorstellung, es gäbe in ihr eine «Leitkultur», an die sich Minoritäten anzupassen hätten, als abstrus gelten musste. Schon durch seine Biografie war er sozusagen gefeit vor solchen Anmaßungen: «Ich dachte an meinen eigenen Lebensbereich: Da hieß der eine Großvater väterlicherseits Sinowatz und der mütterlicherseits Csech, und als ich in den burgenländischen Landtag einzog, hießen die kroatischen Kollegen Müller und Probst, aber die Deutschen hießen Trenowatz und Sinowatz. Die Bürgermeister meiner Heimatgemeinde seit dem Ende des Krieges hießen Csech, Mikulits, Lajos und de Gobbo, Letzterer ein Abkömmling eines italienischen Bauarbeiters, der wie viele andere seiner Landsleute beim Bau der Wiener Ringstraße ins Land gekommen war.» Bis heute fehle in diesem Bundesland eine reine deutsch-burgenländische Identität, meinte Sinowatz damals (1997), eine «Mehrfachidentität» sei in «fast allen Familien des Burgenlands» die Realität, und trotzdem sei das Land «von den Geißeln unserer Zeit, der Fremdenangst und der Fremdenfeindlichkeit», nicht verschont geblieben. Man dürfe also nicht müde werden, «um in verständlicher, ja fast handfester Form auf die historisch bedingte Mehrfachidentität von uns allen hinzuweisen», so Fred Sinowatz zehn Jahre nach seinem Rücktritt als Bundeskanzler. Niemand hat seine Intellektualität mehr gewürdigt als das Enfant Terrible der burgenländischen Kunstszene, der Aktionist, Autor und Regisseur Peter Wagner. In seiner «ultimativen» Geschichte des Burgenlandes, dem fast 600 Seiten starken Märchen «Die Burgenbürger – Homo Suellensis Panonniae» entdeckt Hauptperson Fred (Sinowatz) den Schwellenmenschen, Nachfolger jener Grenzwächter aus einem älteren Märchen, die zwei Gesichter besitzen. Das eine schaut ostwärts, das andere westwärts: «Und Fred sagte, betrachtest du es vom Osten, ist es der Saum der Alpen. Siehst du es von Westen, ist es der Tellerrand der großen Ebene. Oben und unten je eine Pforte, die Donau im Norden, die Raab da unten im Süden. Alles dazwischen ist barer Übergang, von einem ins andere, vom anderen ins eine. Das ist die Zwischenwelt schlechthin.» Die Gesellschaft als barer Übergang, voll mit Schwellenmenschen – das ist nicht die Beschreibung einer tristen Realität, sondern der schönsten aller sozialen Utopien. Peter Wagner könnte sie nicht seiner Sinowatz-Figur in den Mund legen, wenn das Original, der reale Sinowatz weit entfernt von solchen Fantasien gedacht und gewirkt hätte. Den Kreisky-Sakralisierern sei übrigens gesagt, dass nicht unter Kreisky, sondern unter Sinowatz die sozial selektierende Aufnahmsprüfung für die AHS abgeschafft wurde. Gäbe es sie noch, wären Kinder aus Migrationsmilieus heute um eine Dimension abgekoppelter von den Bildungswegen, als sie es heute sind. Robert Sommer, AUGUSTIN 27.01.2011
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Literatur; Neuerscheinung; Rezension; Burgenland
Burgenländischer Volksbuch-Versuch:
Peter Wagners "Die Burgenbürger"
Der verstorbene Alt-Kanzler Fred Sinowatz steht im Mittelpunkt eines bunt illustrierten Romans, der Landesgeschichte, Märchen und Polit-Satire mischt (Von Wolfgang Huber-Lang/APA)
Wien (APA) - Dass er eines Tages als Romanheld wiedergeboren werden würde, hätte sich der 2008 verstorbene Fred Sinowatz wohl nicht träumen lassen. In "Die Burgenbürger", einem literarischen Experiment des südburgenländischen Autors und Regisseur Peter Wagner (53), steht er im Zentrum eines eigenwillig bis skurril anmutenden Streifzugs durch die pannonische Sagenwelt und die burgenländische Geschichte.
Doch nicht nur die charakteristische Nase des Alt-Kanzlers steht einem dank der Illustrationen von Henryk Mossler bei der Lektüre des dicken Heimatbuches beständig vor Augen. Für den zweiten Protagonisten, den Jungpolitiker Pinz Joe, der so gerne die Führung im Lande übernehmen würde, aber noch viel zu lernen hat, ist wohl der regierende Landeshauptmann Hans Niessl (S) Modell gestanden.
Wagner, mit seinen Texten, Inszenierungen und Aktionen seit vielen Jahren ein giftiger Stachel im Fleisch der burgenländischen Polit- und Kulturszene, versucht mit "Die Burgenbürger" eine Wiederbelebung des alten, längst von der modernen Medienwelt überholten Volksbuch-Gedankens und kreuzt diesen mit zeitgenössischer Polit-Satire. Onkel Fred klettert mit Pinz Joe, der eines Tages an dessen Haustür in Neufeld klopft und sich das "r" in seinem Namen erst verdienen muss, um nächster Landeslenker zu werden, in das große Bubülabu, das geheime Burgenbürgerlandbuch, in dem alle Mythen, Sagen und Märchen der langen und wechselvollen Geschichte des Landstriches verzeichnet sind.
In insgesamt 21 Märchen versucht sich Wagner an der "ultimativ märchenhaften, märchenhaft ultimativen Geschichtsschreibung eines weithin unerforschten Menschenvolks", und so begegnen Onkel Fred und Pinz Joe in der Folge alten Römern ebenso wie anstürmenden Türken, Maria Theresia wie der Blutgräfin von Lockenhaus, den Komponisten Joseph Haydn und Franz Liszt, aber auch jeder Menge Feen und Kentauren, Hexen und Geistern. Begleitet wird die turbulente Zeitreise von rund 200 aquarellierten und gezeichneten Illustrationen von Henryk Mossler, die immer wieder deutliche Anleihen an die Bilder- und Schreckenswelten von Hieronymus Bosch, Alfred Kubin oder Oskar Laske nehmen.
Peter Wagner hat mit seinem ungewöhnlichen Buch etwas gewagt. "Die Burgenbürger" bieten auf über 500 Seiten nicht nur eine grellbunte Mischung aus Geschichten und Geschichte, Unterhaltung und Belehrung, Sage und Satire, sondern auch viel Stoff für Diskussionen, ob diese Wagnis aufgegangen ist. Am besten im Rahmen verpflichtender Schullektüre junger Burgenbürger.
(S E R V I C E – Peter Wagner: "Die Burgenbürger", Illustrationen von Henryk Mossler, Edition Marlit im Hora Verlag, 568 S., 34,10 Euro, ISBN 3-213-00087-6)
(Schluss) whl/ley
Der folgende Rezensionstext von Clemens Berger zu "Die Burgenbürger", Romansatire von Peter Wagner, ist am 9. Jänner 2010 im Spectrum der Tageszeitung "Die Presse" unter dem Titel "Zehen mit Salz bestreuen" erschienen. Er wird hier in der von Clemens Berger abgegebenen Originalversion wiedergegeben.
Tragödie der Eitelkeit, Komödie der Vergeblichkeit
Bekanntlich ist die Frage, ob etwas eine Komödie oder eine Tragödie sei, nicht immer eindeutig zu entscheiden. Die Schwierigkeit, in der Tragödie nicht die Komödie und in dieser nicht jene zu sehen, ist zumal in jenem schmalen Streifen Welt, das seit beinahe neunzig Jahren auf den Namen Burgenland hört, oft aufs Äußerste zugespitzt. Man muss bloß gelegentlich die Tagesnachrichten des Landesrundfunks im Internet überfliegen, um sich mit einem weinenden und einem lachenden Auge zu sagen, dass es dergleichen nur im Burgenland geben könne – die Geschichten ebenso wie die Benachrichtigungen darüber.
Peter Wagner, dessen Theaterstücke und Hörspiele die Grenzen dieses schmalen Streifens Land oft überschritten haben, lebt seit fünfundfünfzig Jahren dort, wo er geboren wurde und seine Welt vor Augen und Ohren hat. Und weil er dort, wo er lebt, nicht nur sein will, sondern als der sein will, der er ist und geworden ist, hat ihm das über die Jahre viel Feindschaft eingetragen – nicht nur von den rechten und braunen Kulturkämpfern. Der Erzählband Aktion am Drulitschweg, mit dem er 1981 debütierte, sollte lange die einzige Prosa des notorischen Störenfrieds bleiben, der sich fortan ans Theater und Hörspiel, an die Regie, den Film und die Musik hielt.
Beinahe drei Jahrzehnte später liegt ein dickes Buch mit einundzwanzig sogenannten Märchen vor, in dem Wagner seine beiden Helden Onkel Fred und Pinz Joe, die alles andere als Helden sind, ins Große Buch der Burgenbürger, ins Bubülabu, einsteigen lässt. Pinz Joe war schon Volksschuldirektor, Bürgermeister, Obmann des Roten Fahnenschwingerclubs, nun will er tatsächlich etwas werden – der Prinz der Burgenbürger! Dazu fehlt ihm allerdings das Entscheidende: ein R, das R, die Farbe des Landes und des Weins, die ihm in Gesicht wie Herzen fehlt. Onkel Fred, alt, gebrechlich, neugierig und ziemlich weise, nachdenklich, melancholisch und dann wieder jugendlich schelmisch, soll ihm dabei helfen. Gemeinsam mit dem Kater Bruno steigen die beiden in das riesige Buch und gelangen ähnlich wie Alice, die durch einen Spiegel schreitet, in ein anderes Land – ins Burgenbürgerland, das mitunter auch ein Wunderland ist, im Guten wie im Schlechten.
Gewiss kann man die Geschichte als Abrechnung mit der verlotterten Sozialdemokratie lesen, als Hohn über die Technokraten und Karrieristen, die sich dem Kapitalismus nicht nur ergeben, sondern ohne Wenn und Aber verschrieben haben. Man kann auch eine gewisse Wehmut über den Verlust, vielleicht gar eine Verklärung vergangener Proponenten dieser Partei finden, denen Antifaschismus und soziale Gerechtigkeit nicht bloß Floskeln für Sonntags- und Wahlkampfreden waren. All das ließe sich aber anders und kürzer sagen; vor allem verfehlte es den Kern dieser wundersamen Reise, in der uns nicht nur Haydn, Liszt oder der Heilige Martin begegnen.
Es sind Phänotypen, die Wagner durch die Geschichte stolpern und torkeln lässt, mit vollen Bäuchen und leuchtenden Nasen, in jeder Zeit im falschen Kostüm, stets verdächtig, oft verlacht, bisweilen bestaunt, von der Steinzeit übers Mittelalter, vom Marsch der Türken auf Wien über den Ausbruch nationalistischer Gefühle bis zum Ende des ersten Weltkriegs. Da ist einer, der nichts spürt, nichts sieht, nichts hört, der mit den Verhältnissen immer einverstanden ist, die Teilungen in Oben und Unten gutheißt, solange er nur zum Oben gehören könnte, zu denen, die etwas zu sagen, repräsentieren oder entscheiden haben; und wenn er aufmuckt, tut er es in sich. Und dann ist da einer, der läppisch und tollpatschig wirkt, schon weil seine Nase so groß ist, den die Wut über unhaltbare Zustände überkommt, der stets einen Schritt zurücktreten will, um zu überlegen, während er doch am liebsten mitmischen würde, um für andere Verhältnisse zu kämpfen.
Allein, sie befinden sich in der Geschichte. Zwar wird die immer neu und anders und den jeweiligen Anforderungen der Zeit entsprechend geschrieben, bloß die Tatsachen und deren Wirkungen lassen sich nicht ungeschehen machen. Obwohl Pinz Joe den Kreisverkehr oder die Dampflokomotive avant la lettre erfindet (eigentlich ist es Seelchen, die Dritte im Bunde, die Unerlöste, die über die Zeiten hinweg stets in anderer Gestalt auftritt, um schließlich in der Vereinigung Pinz Joe mit ihrem Blut das fehlende R zu geben), obwohl Onkel Fred den Gruß Freundschaft in die Welt bringt, bleibt es immer beim Beinahe. Wo der eine gern eingreifen, um den Verlauf der schlechten Geschichte zu ändern, und der andere am liebsten glänzen würde, bleiben sie Reisende, Zaungäste, die höchstens mitspielen dürfen, jedoch nichts bewerkstelligen können, selbst wenn Joe anscheinend Riesenschlachten verhindert. Nur am Ende, das mit einem Doppelpunkt schließt, besteht die Möglichkeit, dass Onkel Fred, indem er absichtlich beim Kartenspiel verlöre, die Geschichte ab 1921 radikal veränderte, den Nationalsozialismus abwehrte, die Shoah, Hiroshima und den sogenannt real existierenden Sozialismus gleich dazu. Dafür müsste er allerdings den Worten eines ungarischen Weißgardisten und Antisemiten vertrauen, der ihn kurz davor noch auf eine Bank gefesselt und die Zehen mit Salz bestreut hat, um eine Ziege daran lecken zu lassen, was Fred und das Publikum fürchterlich lachen ließ.
All das ist äußerst witzig und in grellen Bildern erzählt, in die bisweilen ein Blitz fährt, der für einen Moment so etwas wie Wahrheit durchscheinen lässt. Da ist etwa Toni, ein armer Kerl in schlimmen Zeiten, dem auf einer Bühne vor versammelter Menge zuerst von einem katholischen, dann einem protestantischen Geistlichen und schließlich vom Fürsten die letzten Groschen aus der zerlumpten Jacke gezogen werden; allerdings wird er von Gauklern zum Narren gehalten, die in Kostüme schlüpfen, um sich an der Dummheit und Vergnügungssucht der Menschen gütlich zu tun. Am Ende darf Toni durch einen Spiegel treten und zum Pudel werden, der ein besseres Leben hat als ein Tölpel auf armem Land. Fortan streunt er mit Fred und Joe, Seelchen und dem Kater Bruno durch die Zeiten und pinkelt immer wieder an feine Beine.
Im Parforceritt durch die Zeiten (und während des Flugs mit der Gans Erika) destilliert sich vielleicht das heraus, weswegen Pinz Joe die Reise auch angetreten hat: die Identität der Burgenbürger, eine Nicht-Identität. Sie will er ergründen, um diese dereinst besser regieren zu können. Es ist ein kleines Land, durch das die Römer ziehen, die Heere der Hunnen und Germanen, Awaren und Magyaren, Türken und Habsburger. Da leben Deutsche und Ungarn, Kroaten, Roma und Juden – aber alle sind doch immer auch und in erster Linie Burgenbürger, Grenzgestalten, wenig eindeutig, alles andere als identisch. Vereint werden sie von der Melancholie der Ebene, vom Ausbruch im Rausch, vom Gefühl, sich in einem Moment für einen Weltmeister zu halten und im nächsten schon wieder den Kopf einziehen zu müssen, wie es der Vater und die Mutter und deren Väter und Mütter getan hatten. Fred und Joe entdecken den Schwellenmenschen, Homo suellensis Pannoniae, Nachfolger auch jener Grenzwächter aus dem Märchen, die zwei Gesichter besitzen, wobei das eine nach Osten, das andere nach Westen schaut –und spuckt. Onkel Fred erkennt in all dem die Vergeblichkeit menschlichen Tuns, an das er doch glaubt. „Und Fred sagte, betrachtest du es von Osten, ist es der Saum der Alpen. Siehst du es von Westen, ist es der Tellerrand der großen Ebene. Oben und unten je eine Pforte, die Donau im Norden, die Raab da unten im Süden. Alles dazwischen ist barer Übergang, von einem ins andere, vom anderen ins eine. Das ist die Zwischenwelt schlechthin.“
Am Stärksten ist Wagner, wo er das Phänotypische grotesk überspitzt. Sieben Burgen müssen passiert werden, um zum Tyrannen Henz vorzudringen. Er thront auf einem rollbaren Podest, unendlich groß und wahnsinnig gefräßig; was immer ihm das Volk darbringt, von Kutschen über Weinfässer bis zu den Kindern, er verschlingt alles mit einem Biss. Da sind die Kroaten, die Krowoden, die einen vom Süden in den Norden langgestreckten Hof bewohnen, wobei jeder Hof sich vom anderen unterscheidet und abgrenzt. Manche von ihnen sind Wurzelstecher: mit den ausgegrabenen Wurzeln reisen sie in die Städte, um sie in Geld umzusetzen. Andere bauen in ihrer Assimilationswut die „deitsche Schanze“, über die ihre Kinder müssen, um eine Chance im Leben zu haben, während sie sich mit riesigen Bürsten den Akzent von der Zunge zu schrubben versuchen. In ein monumentales Magistrat zur Magyarisierung tritt man mit deutschem Namen, mit einem Stempel auf dem Hals und ungarischem Namen verlässt man es wieder.
In all dem Aberwitz, in all den bunten Szenen spürt man immer auch, wem die Anteilnahme des Autors gilt, die durch Onkel Freds Blick ins Burgenbürgerland kommt – den Subalternen, den sogenannten kleinen Leuten, die nicht nur klein sind, weil es die Großen so wollen, sondern auch weil sie akzeptieren, klein zu sein, es nicht anders wollen, bisweilen sogar wünschen. Der ungarische Béres, der Knecht par excellence, spricht unumwunden aus, dass zuviel Freiheit, ja Freiheit überhaupt den Menschen nicht gut bekomme. Das ist die Szene, in der Onkel Fred zum ersten und einzigen Mal weint. Sein Erfinder erzählt das merkwürdige Märchen des Landes von unten, anhand derer, die in eine Geschichte geworfen sind, die gnadenlos über sie hinwegzieht.
Henryk Mossler, ein aus Polen stammender Maler, den es vor langem ins, ja, Burgenbürgerland verschlagen hat, steuert zweihundert Aquarelle und Zeichnungen zur Geschichte der Grenzmenschen bei. Mossler illustriert die Geschichte nicht, er erzählt sie in der ihm eigenen Bildsprache noch einmal: bunt und derb, phantastisch surreal und überrealistisch, tiefkomisch und himmelschreiend verzweifelt. Hexen und Priester, Stimmfänger und Gott Pan, Tiere und Fabelwesen künden in ihrem Wahn, ihrer Geilheit, ihrem Zwinkern und Saufen, im Nasedrehen und Beinstellen von der Komödie der Vergeblichkeit und der Tragödie der Eitelkeit. Nachdem er den Verfolgern nicht mehr entkommen konnte, lugt Onkel Fred als Purbacher Türke aus einem Schornstein. In dem verklärten, staunenden Blick, mit der roten Nase, die von den Stunden zuvor im Weinkeller erzählt, fängt Mossler jenes seltsame Glück im Augenblick ein, der bestimmt vergeht. Von unten kommt schon das Feuer, bloß der Blick in die Weite ist so schön.
Peter Wagner: Die Burgenbürger. Die ultimativ märchenhafte, märchenhaft ultimative Geschichtsschreibung eines weithin unerforschten Menschenvolks. Mit Illustrationen von Henryk Mossler. 560 Seiten, €34,10, Edition Marlit/Hora Verlag
Der alte Onkel und sein Pinz
Peter Wagner hat ein grotesk delikates Buch geschrieben, das dem Märchen zurückgibt, was des Märchens ist: die schlichte Wahrheit.
Die Sache mit der Identität ist eine ziemlich heikle Angelegenheit. Zwar tut man gerne so, als gäbe es tatsächlich sowas wie eine Einheit mit sich selbst. Beim näheren Hinschauen entpuppt sich die dann aber bald als eine etwas monströse Groteske, die kaum mehr ist als ein Sammelsurium launiger Aberwitzigkeiten, die gerade dann ein wenig ins Obszöne lappen, wenn die gewichtigsten Angelegenheiten zur Sprache kommen.
So gesehen, hat das neue Buch von Peter Wagner eine zwingende innere Logik, die sich davon nährt, dass ein gewisser Pinz Joe - das R muss er sich erst verdienen - einen gewissen "Herrn Doktor Onkel Fred" aufsucht, damit der ihm beibringt, "was Wesen und Identität der Burgenbürger angeht" . Mehr hat er nicht gebraucht, der Pinz Joe, der sich anschickt, der nächste Fürst des Burgenbürgerlandes zu werden. Der Herr Doktor Onkel Fred nimmt den kleinen Joe mit auf eine Tour d'horizon durchs große, heilige Burgenbürgerbuch. Und ab geht die Post, quer durch die Zeitläufte, an deren Ende dann das mit sich selbst identische Burgenbürgerland steht oder stehen sollte.
"Märchen" nennt Peter Wagner die 21 Abenteuer, welche die beiden unschwer zu identifizierenden Protagonisten zu bestehen haben. Aber man würde dem Buch schwer unrecht tun, es als Schelmenporträt des vom verstorbenen Altkanzler Sinowatz an der Hand genommenen Hans Niessl missverstehen zu wollen.
Den Grimmelshausen machen
Wagner macht dem burgenländischen Landeshauptmann mit diesem Buch sozusagen den Grimmelshausen. Als Simplicius Simplicissimus stolpert er durch die Geschichte des Burgenbürgerlandes, das bevölkert ist von grotesken Rabelais'schen Gestalten - vom käuflichen Gott Pan über den Riesen Henz bis hin zu jenem Esterházyfürsten, in den sich der irrlichternde Pinz Joe unerklärlicherweise verwandelt, worauf ihm die Verheiratung mit der hässlichsten Tochter der Maria Theresia droht, dem stinkerten Liserl.
Eine Romansatire nennt sich das Buch. Aber das greift auch ein wenig kurz, denn in den starken Momenten wächst die Geschichte weit über die Vorlage zu etwas Eigenem.
"Ein Volksbuch" , sagt Wagner, habe er schreiben wollen, ein Buch, das auch dem zur Unterhaltung dient, der wenig Augenmerk legt auf die Querverweise und die Anspielungen, die hämische Kritik und die süffisante Bloßstellung des modernen sozialdemokratischen Leerlaufs.
Das alles sind die Burgenbürger auch, aber eben nicht nur. Denn der Erzählgestus ist eben der des klassischen Märchens - dass sich da einer ein Achterl vom Eisenberg einschenkt, einen tiefen Schluck nimmt und zum Schwadronieren anfängt bis tief hinein in die Nacht. Das allerdings ist hohe Kunst. Denn so einfach, wie es hier hingeschrieben wird, ist es natürlich nicht. Es bedarf einigen handwerklichen Geschicks, den fabulierenden Ton nicht ins Plaudern ausfransen zu lassen, in dem dann die schönen Burlesken zu bloßen Gags werden, die der mächtig geschwänzte Operettendirektor über die Bühne sozusagen wunderbart.
"Die Satire" , sagt Wagner, "verlangt ungeheure Präzision." Und umfassende historische Kenntnis natürlich auch, denn sonst kann es passieren, dass einer wie Pinz Joe die längst schon erfundene Dampflokomotive erfindet - ein Wortbild, das fast Markenqualität hat, nicht nur fürs Burgenbürgerland.
Peter Wagners Buch ist im Hora-Verlag erschienen, einem Verlag, der vor Jahrzehnten schon mit Jaroslav Seifert oder Slavoj Z¹iz¹ek große Ambition gezeigt hat, zuletzt aber ein wenig eingeschlafen ist. Ein etwas verwunschener Verlag also, der nun mit einer neuen Reihe, der Edition Marlit, wachgeküsst werden soll.
Grundierende Aquarelle
Sollte Wagners Buch diesbezüglich etwas Programmatisches haben, darf man gespannt sein. Die Burgenbürger sind nämlich ein schönes, aufwändig gestaltetes Buch, zu dem Henryk Mossler 200 Aquarelle beigetragen hat, die Wagners Erzählton weniger illustrieren, sondern grundieren, und in denen man sich da und dort auch richtiggehend verlieren kann.
Mosslers Bilder nutzt Peter Wagner - der ja nicht bloß ein Schreiber, sondern auch ein Theatermann ist - ebenso zur Inszenierung seiner Lesungen. Am vergangenen Donnerstag geriet die Präsentation in der Osliper Cselley-Mühle zum theatralen Akt, in dem die Bilder eine nicht minder wichtige Rolle spielten wie die feine Musik jenes Ensembles, das sich sinnigerweise "Trio Burgenbürgerland" nennt.
Wolfgang Weisgram, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 21./22.11.2009
„Wir Burgenbürger“
WAGNERS ODYSSEE / Opulent, frech und wortgewaltig startet die Edition Marlit im Hora Verlag: Zum Auftakt serviert Peter Wagner heimische Geschichte(n) als grenzenlose Romansatire.
Es war schon im Vorfeld viel zu hören davon. Gar, dass manche, speziell in Polit-Kreisen, der Veröffentlichung mit Spannung entgegengesehen hätten.
Als Peter Wagner dann kürzlich mit „Die Burgenbürger“ sein neues 570-Seiten-Werk präsentierte, stellte es sich als das heraus, was es ist: ein gewichtiges Stück burgenländische Literatur. Aber schon auch ein wildes.
Drei Jahre lang schrieb der südburgenländische Vielarbeiter, „fordernde Denker“, Film- und Theatermensch an seinem Werk, das in 21 Abenteuern nicht nur mit politischen Befindlichkeiten liebäugelt, sondern mit Liebe zum (historischen) Detail eine ganze Landesgeschichte zur Romansatire umschreibt.
Die neue Verlags-Edition mit Burgenland-Connection
Mit diesem „Epos“ startete die Edition Marlit nun ihr Programm – als Verlag in Wien, mit burgenländischen Berührungspunkten. Dazu haben sich mit Winfried Plattner, dem Leiter des Hora Verlages, zwei zusammengetan, die hierzulande keine Unbekannten sind: Vera Sebauer und Eveline Rabold.
Nach einem sauberen Start mit den „Burgenbürgern“ stehen die nächsten Veröffentlichungen bereits fest – die erste Künstlermonographie des Duos „Machfeld“ und Andreas J. Obrechts Roman „Der doppelte Schritt“.
Buch-Kritik
Pinz Joe (ohne „r“, denn das muss er sich erst verdienen) will Fürst des Burgenbürgerlandes werden und lässt sich von Doktor Onkel Fred auf eine Reise durch die Geschichte dieses „weithin unerforschten Menschenvolkes“ mitnehmen. Darum geht es in Peter Wagners „Märchen“. Und dann geht´s los: Die beiden Protagonisten – in den Illustrationen Henryk Mosslers und auch sonst als amtierender Landeschef und legendäres SPÖ-Urgestein unschwer auszumachen – ziehen durch die Landesgeschichte: eine Odyssee, ein Volksbuch, Insider-Schmäh auch für Nicht-Burgenbürger, historische Punktlandungen, ein skurriles Drunter und Drüber – Wagners Buch ist all das und noch mehr. Schwer und gut liegt es in der Hand und macht viel Spaß.
Wolfgang Millendorfer, BVZ, 16. 12. 2009
Siegmund Kleinl
Sein oder Design – das ist hier die Antwort
Zu Peter Wagners Roman Die Burgenbürger
1
Sein oder Design – das ist in Peter Wagners Roman „Die Burgenbürger“ anfanghaft die Frage.
Sinnlichkeit der nackten Existenz oder die Intelligenz des menschlichen Entwurfs (Designs).
Erzählend und reflektierend wirft der Dichter den Homo suellensis Pannoniae (den Menschen der pannonischen Schwelle) in den Gestalten eines gewesenen (Fred) und wesenden (Pinz Joe) burgenländischen Politikermenschen ins volkstümliche Dasein, zurück in die Bilderhöhlen grauer Vorzeit bis herauf in die Höllenbilder des beginnenden 20. Jahrhunderts.
So viel Geschichtszeit wird in 21 Geschichten vom Dichter eingefangen und auf die Leser (innen) losgelassen.
Beseelt von Seelchen, einer an Engel und Madonnen erinnernde Märchenfigur, bilden die zwei Repräsentier-Burgenbürger mit der seelischen Begleiterin eine menschliche Trinität, die in Henryk Mosslers Zeichnungen und Aquarellen einen bewegten Geschichtsreigen tanzt nach der Weise eines weisen Buches, in das Fred und Pinz Joe hineinsteigen, um in einem sturminspirierten Meer von Geschichten ordentlich ins Schwimmen, Schwitzen und Schwatzen zu geraten.
2
Der Autor hat gründlich recherchiert, das in Geschichtsbüchern gefundene Material verwandelt in poetisch erfundene Märchen, beginnend in grauer Vergangenheit, heraufdämmernd aus der Zeit der Römer, düster erhellt von Rittern und Hexen, Türken und Gauklern, Hianzn und Zigeunern, Poltikern und Helden der Arbeit, die allesamt sich als Ahnen der Burgenbürger erahnen lassen. Durch die feinsinnigen und grobsinnlichen Textzeilen schillert nicht nur das Volksbuch durch, auch eine klassische Menschheitsidee: Der Mensch, der sich durch die Geschichte emanzipiert. Ist solcherart Emanzipation ein Märchen?
Ist Peter Wagner dem Roman-Tick verfallen, das Erzählen bringe die Welt hervor, ja schaffe sie neu?
3
Die Form des Märchens bedient sich des Dichters, der das Sagen zuspitzt, bis sich das Erzählte aussagt. Moderne Literatur will meist nur sagen, nichts aussagen. Peter Wagner ist das Sagen allein zu wenig. Er arbeitet zwar intensiv mit und an der Sprache, seziert sie aber nicht, er belebt sie mit dem Atem des Volksmunds.
Das Sezieren der Sprache ist die Marotte derer, die, da sie nichts auszusagen haben, sich aufs Sagen beschränken, sagt der anarchistische Denker Cioran.
Ist der Märchen-Erzähler Peter Wagner ein Anarchist?
Ja. Er nutzt die Gesetze des Märchens, um mit ihnen zu brechen. Ist einer, der über die herrschenden literarischen Gesetze lose, locker hinweggeht.
Was auf den ersten Leserblick traditionell daherkommt, ist bei genauer Lektüre der Mut des Autors, dem Leser Unterhaltung auf anspruchsvollem formalen und sprachlichen Niveau zuzumuten. Will man den Roman einer literarischen Gattung zuordnen, sperrt er sich nicht dagegen, offenbart sich vielmehr als formenübergreifender, die ihm zugeordnete Gattung integrierender Erzählkörper. Eine dieser vielfältigen Formen ist die Satire. Sie wirkt umso treffender, je hochgradiger ihre Literarizität ist.
4
Wagners Roman ist ein opulentes Erzählwerk in zwanzig und einem Märchen, entfernt an Tausend und eine Nacht erinnernd, orientalisch üppig in der Phantasie, Märchen mehr im ursprünglichen Wortsinn von „maere“, wie es im um 1200 verfassten Nibelungenlied gebraucht wird: uns ist in alten maeren, wunders viel geseit / von heldene lobebaeren, von harter arebeit / von fröiden, hochgeziten, von weinen und von klagen / von küener recken striten… liest man in der ersten Strophe des Heldenepos. Klingen da nicht Wagners kühne Recken Fred und Pinz Joe ouvertürenartig an? Es ist harte arebeit, wenn Fred, dem der Kater Bruno ständig im Nacken sitzt, seinen Schüler sozial und demokratisch machen will. Da hat Pinz Joe manchmal mit Fred sein Gfrett. Gemeinsam ist ihnen oft zum weinen, klagen sie über Zu- und Missstände, erleben aber auf ihren historischen Abenteuern auch die Freuden von Festen, die ihnen nicht immer ganz gut bekommen. Typisch burgenbürgisch müssen sie jegliches Essen, zu dem sie eingeladen sind, bis zum Fressen gern haben, das Trinken übel in sich hineinsaufen, überstehen aber, zur Beruhigung des Wählervolkes, alles. Helden eben. Im Sinne Wagners, Peter nicht Richard.
Von alldem und mehr erzählen die 21 maeren, fiktive Berichte, die Kunde geben von den landläufigen Sitten, Bräuchen, Taten und Tätlichkeiten der erahnten Burgenbürger. Märchen, die in Sagen hinüberoszillieren, also aus der Zeitlosigkeit von Gut und Böse in eine sagenhafte Zeit von gutem Bösen und bösem Guten.
Satt ist der Burgenbürger nicht immer gewesen, aber tierisch wird er ebenso weiter sein wie menschlich, satttierisch eben.
5
Vom Märchen über die Sage changiert Wagners Roman ins Pikaresk-Satirische, scheint inspiriert zu sein von den Anfängen des europäischen Romans.
An den Anfängen stehen Rabelais` „Gargantua und Pantagruel“ (erschienen1532- 1564)und Cervantes` Don Quijote (erschienen 1605-1615) mit seinem Diener Sancho Pansa. Erinnern Fred und Pinz Joe nicht an diese literarischen Heiligen idealistischer bzw. pragmatischer Einfalt? Wenngleich Fred seiner äußeren Statur nach eher an Sancho Pansa, der schlankere Pinz Joe mehr an Don Quijote denken lässt, ist es hinsichtlich der Charaktere gerade umgekehrt. Fred markiert den Idealisten, den Tagträumer im Sinne Ernst Blochs, der an die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse glaubt, Prinz Joe den Pragmatiker, für den opportunes Denken ganz oben in der Werteskala rangiert, so gesehen Sancho Pansa nicht unähnlich.
Während jedoch Don Quijote aus den Ritterbüchern, die er liest und deren Inhalt er ähnlich den Computerspielefreaks von heute mit der Realität gleichsetzt, herausgeht, gehen Fred und Joe in das große, geheime Geschichtsbuch hinein, von dem im ersten Märchen des Romans die Rede ist, um sich durch das Kennenlernen der Vergangenheit der Burgenbürger von den leibhaftig erfahrenen Herrschaftsstrukturen zu emanzipieren. Zum Beispiel von der Gestalt des maßlos gefräßigen Riesen Henz und dessen Sohn aus der Gegend um Güssing, den Vorfahren der Hianzn. Beide erinnern an Pantagruel und seinen Sohn Gargantua, auch sie Riesen und gefräßig, wenngleich weit nicht so imperialistisch gierig und brutal wie die Antihelden in Wagners Roman. (Der Riese Henz ist auf dem Titelbild des Buches dargestellt).
Bei Rabelais tritt die Handlung zugunsten einer sprühenden Sprachphantasie stark in den Hintergrund, bei Peter Wagner gewinnen die Geschichten durch eine phantasievolle, bildhafte Sprache eine raumgreifende Plastizität mit atmosphärisch dichtem Lokalkolorit.
Wagners Sprache gemahnt im Grundriss ihrer Syntax mit ihren häufig weit gespannten Satzbögen, ihrer volksnahen Sinnlichkeit, ihrer Detailfreude und ausladenden Metaphorik an den Stil des Barock, etwa an Grimmelshausens Simplicius Simplicissimus. Dieser Roman mit dem Dreißigjährigen Krieg als Hintergrund ist eine deutschsprachige Form des Schelmenromans, in dessen Mittelpunkt die Lebensgeschichte eines Mannes steht, der alle
Dimensionen der menschlichen Existenz durchlebt. Simplicius, ein Junge scheinbar einfacher Herkunft und einfältigen Geistes, der sich aber im Laufe seines Lebens gewaltig entwickelt, könnte in Wagners Buch eine Entsprechung in Fred finden, Pinz Joe bliebe die Rolle des Simplicissimus.
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Vergleicht man Wagners Roman mit konventionellen Romanen neuerer Zeit, also des
19./20. Jahrhunderts, lassen sich über die Gemeinsamkeiten hinaus auch wesentliche Unterschiede herausarbeiten. Es wäre demnach voreilig zu behaupten, dass Wagners Roman sich formal in nichts von der überwiegenden Zahl seiner Gattung unterscheide.
Der herkömmliche Roman macht kein Theater mit der Realität. Dazu ist er zu realistisch, zu sehr auf Mimesis, Nachahmung der Wirklichkeit, bedacht. Er ist weiters gekennzeichnet durch eine chronologische Abfolge des Erzählten.
Auch Wagner erzählt in seinem Roman die Ereignisse chronologisch, gestaltet sie aber dramaturgisch wirksam aus zu Szenen einer Weltgeschichte im Kleinen.
Den traditionellen Roman prägt das kausale Gefüge von Wirkung und Ursache.
Solchem Gefügtsein fügt sich das Geschehen in den Burgenbürgern nicht.
Im typisch realistischen Roman werden die Charaktere aus dem Kontext ihrer psychologischen und sozialen Bedingungen heraus entwickelt.
Die Burgenbürger, verkörpert in Fred und Pinz Joe, sind Charaktere, die bleiben, wie sie sind.
Der traditionelle Romancier erzählt meist aus der zentralen, der auktorialen Perspektive.
Peter Wagner auch, lässt aber seine Figuren entscheidend miterzählen, wechselt dabei von der zentralen in die personale Perspektive.
Konventionell wird durch Erzählen Spannung aufgebaut.
In den Burgenbürgern erwächst die Spannung aus der erzählten Rede und den Dialogen, die vor allem eine innere Dramatik erzeugen.
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Die 21 Abschnitte des Romans sind zwar durch Protagonisten, Leitmotive und formale Strukturen miteinander verbunden, haben aber nicht den großen Spannungsbogen einer durchgehenden Handlung. Die einzelnen Kapitel stehen inhaltlich weitgehend für sich, sind aber strukturell einander ähnlich.
Die Beschreibung von Form und Sprache eines Kapitels kann daher exemplarisch für alle anderen stehen.
Wie jedes der 21 Märchen des Romans beginnt auch das erste mit einer knappen Inhaltsangabe:
Wie der von Fürst Karl geschickte Junge bei Altkanzler Fred auftaucht; wie er erfährt, dass das Wissen der Menschheit ein Tier ist; wie er sich über die Büchergewächse des alten Mannes aufklären lässt und dann einen mutigen Schritt mit ihm tut.
Inhaltsangaben in ähnlicher Form finden sich auch in barocken Romanen, in den Volksbüchern von Till Eulenspiegel und den Schildbürgern, in Sebastian Brants Moralsatire Das Narrenschiff (1494) sowie im epischen Theater Bert Brechts.
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Die Romanhandlung setzt ein mit dem Erscheinen Pinz Joes bei Altbundeskanzler Fred, der in einem stinknormalen Haus wie jedes andere stinknormale Haus in der Gasse wohnt.
Die Wiederholung von Wörtern wie hier des Adjektivs stinknormal ist kein Zufall oder Einzelfall im ganzen Roman. Die Stilfigur der Wiederholung wird immer wieder bewusst eingesetzt, um das Einzelne ins Allgemeine, das Individuelle ins Kollektiv zu integrieren.
Das ist im Kern eine politische Aussage, die nicht inhaltlich vermittelt wird, sondern über die sprachliche Formgebung. Es geht, und das wird an diesem sprachlichen Detail bereits deutlich, nicht um einen historischen Roman, sondern um eine Erfassung und Durchdringung geschichtlicher Tatbestände mit literarischen Mitteln (wie Wiederholung, Fiktion, Phantasie, Sprachspiel, Vergleiche, Metaphern, Personifikation, Allegorien usw.).
Ein Beispiel für eine Allegorie bzw. Personifikation ist die Erzählung Pinz Joes von seiner Großmutter, der Roten Resi, die ein Motorrad mit dem Kennzeichen BB-Sozi 1 fährt. Was mit dieser allegorischen Figur oder Personifikation gemeint ist, muss nicht erklärt werden.
Das fehlende R in Pinz Joe ist eine auf den (abhanden gekommenen) Buchstaben gebrachte Charakteristik dessen, was Joe tatsächlich fehlt. Ohne R bleibt von der politischen Symbolfarbe Rot nur „ot“, also nichts, was Sinn machen würde. Rot ist, wie im Märchen 1 und in der Folge einige Male wiederholt, die Farbe aller Farben. Literatur in ihrer dichtesten Form gibt nicht wieder, was gedacht wird, sondern stellt es an der Sprache selbst dar.
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Nachdem der auktoriale Erzähler in wenigen Sätzen geschildert hat, wie Pinz Joe zu Fred kommt, beginnt ein langes Gespräch zwischen beiden, das etwa 11 von 13 Seiten umfasst, unterbrochen nur von der Beschreibung der Mimik und Gestik der Gesprächspartner, die wie Regieanweisungen eines Theaterstückes anmuten.
Das Gespräch wird mit einem Aha – Erlebnis Freds eröffnet, als er plötzlich Pinz Joe vor sich stehen sieht.
Fred spricht hochdeutsche Umgangssprache ohne grammatikalische Defekte, ganze, verständliche Sätze, die häufig mit trockener Ironie gewürzt sind. So droht er dem Gast mit zwei Dopplern Weißen, falls der unlautere Absichten mit seinem Besuch verbinde.
Pinz Joe antwortet in der Form eines Anakoluths (Halbsatzes), an anderen Textstellen elliptisch. Es fehlen Pinz Joe in seinen gedanklichen Konstrukten also oft entweder das Subjekt oder die Satzaussage.
Die Redefigur des Anakoluth ist symptomatisch für einen jungen unerfahrenen Hochstreber, der nicht recht weiß, worauf alles hinaus will.
Pinz Joe unterbricht seine Sätze im Gespräch mit Fred immer wieder, irritiert vom scharfen Blick und lächelnden Mund seines Gegenübers. Fred hat das Gefühl, vor ihm sitze ein unsicherer Schüler, und sieht sich rasch, ohne es zu wollen, in der Rolle des Lehrers.
Wie pädagogisch unaufdringlich er seine Rolle wahrnimmt, zeigt sich an einem gekonnten Wortspiel. Als Pinz Joe auf die Mistelgewächse, die aus Freds Büchern hängen, aufmerksam wird, erklärt dieser dem fragenden jungen Mann, dass es zwei Arten davon gebe, die Optimisteln und die Pessimisteln. Er erörtert daraufhin dem staunenden Schüler, was es mit diesen beiden begrifflichen Wortneubildungen philosophisch und gesellschaftlich auf sich habe.
Dramaturgische Effekte werden nicht selten durch subtile Pointen erzeugt, wie in der folgenden Reaktion des Jungen auf die Erklärungen Freds:
Der Junge fühlte sich wie erschlagen von der geistigen, weit mehr noch plastischen Klarheit dieses Mannes.
Die innere Dramatik wird weiter vorangetrieben durch geheimnisvolle Dinge und Informationen:
Kennst du das Große Heilige Buch des Burgenbürgerlandes? ...
Die wenigsten kennen es. Und doch ist es von eminenter Bedeutung für uns Burgenbürger. In ihm ist die Geschichte unserer direkten, indirekten und gar nicht Vorfahren verzeichnet. Jedes Volk, das etwas auf sich hält, hat solch ein heiliges Buch. Bei uns im Burgenbürgerland ist es das sogenannte Bubülabu, das Burgenbürgerlandbuch. Es ist ein Geheimbuch.
O, sagte Pinz Joe.
Der Spannungsbogen des Gesprächs geht schließlich an seinem sprachlichen Zenit und Wendepunkt ins praktische Handeln der beiden Protagonisten über. Sie steigen ins Buch ein, womit ihre abenteuerliche Reise in die Vergangenheit unserer Region beginnt, auf die der Dichter auch viele Leser mitnehmen will.
Pressetext zu Peter Wagner, Die Burgenbürger
PANNONISCH BURLESK
Der südburgenländische Autor, Regisseur und Filmemacher Peter Wagner legt mit „Die Burgenbürger“ eine Romansatire von literarischer Brillanz vor. Mit einer emotionalen Breite – von feinsinnigst bis derb und zotig, von bizarr überzeichnend bis schaurig real – erzählt er in 21 Märchen die Geschichte eines „weithin unbekannten Menschenvolkes“. Der Künstler Henryk Mossler begleitet den Band in einer skurrilen Bildsprache mit etwa 200 aquarellierten und gezeichneten Illustrationen.
„Mein erstes Augenmerk hat“, so Peter Wagner, „einer Art Volksbuch gegolten, das auch lesen können soll, wer ‚nur’ mit einer Unterhaltungserwartung an ein Buch herangeht.“
Wagner ist es mit seiner Romansatire gelungen, nicht nur äußerst unterhaltsam zu sein, er geht gleichzeitig historisch in die Tiefe und beschreibt die Geschichte eines Grenzraumes, eines Aufmarschgebietes zahlreicher Volksstämme, malträtiert durch entvölkernde Schlachten, ausbeutende Despoten, Kirchenfürsten und wirtschaftliche Systeme. Er verknüpft das historisch Tradierte mit märchenhaft Imaginiertem in der Begegnung mit Riesen, Hexen oder Seelchen.
Auf die Reise durch die Geschichte der „Burgenbürger“ schickt Peter Wagner zwei Protagonisten: den Geschichtsgelehrten Onkel Fred und den von der „Roten Resi“ gedrängten Zögling Joe.
Der Zögling steigt als „Pinz Joe“ gemeinsam mit Onkel Fred in das „Große Heilige Buch des Burgenbürgerlandes“ ein, durchlebt und -leidet dessen Geschichte, um sich am Ende der Reise des begehrten R, das für die Farbe ROT steht und ihm zum „Prinzen“ fehlt, als würdig zu erweisen. Sie landen bei Höhlenmenschen, begegnen Gott Pan, den Römern, dem Heiligen Martin, blicken aus der Vogel- bzw. „Gans“-Perspektive auf Schlachtfelder:
„Himmelorschundzwirn!“, sagte der Bayernführer, und seine Mannen senkten die Schwerter und die Bischöfe und ihre Adjutanten bekreuzigten sich, weniger der Himmelserscheinung wegen als der rüden Sprache ihres herzöglichen Kommandanten. „Jaj, istenem!“, sagte der Árpád und die Magyaren senkten die tödlichen Bögen und die Gesichter der Táltos zuckten und flackerten. „Das ist kein guter Tag für eine Schlacht!“, rief Pinz Joe und Fred dachte, oje.
Sie entfliehen den Türken, sind zu Gast bei Bauern, die ihre Kinder vor dem Riesen Henz verstecken, bei Geigenweltmeister Tschitschu, den krowodischen Kuiprakeri, Variscani, Hajdenjaki, schlüpfen in die Kleider der Aristokratie, sind fasziniert von den Helden rationalisierter Arbeit, ....
Obwohl die Erlebnisse der Reise Onkel Freds „Theorie der Vergeblichkeit“ in keiner Weise korrigieren und das Empfinden des Beengtseins in der Heimat des Menschentypus Suellensis Pannoniae – übersetzbar mit Schwellenmensch Pannoniens – nicht mindern, sehnt er sich nach seinem irgendwie überschaubaren Kosmos:
„Hatten die, die dieses Land verließen, nicht im Tiefsten ihres Antriebes recht, die Enge ihres Landes zu fliehen? Musste eine Phänomenologie des Burgenbürgerlandes … nicht zwangsläufig in die Erkenntnis münden, dass alles, aber auch schon alles, was man hier erfunden hatte, anderswo längst erfunden war? Dass alles, was man für wichtig und heilig hielt, überall anderswo noch wichtiger und noch heiliger war? Oder längst schon nicht mehr wichtig und heilig? … Aber ist das nicht nur die paradoxe Enge eines Korsetts, das der Mensch braucht, um in ihm den erweiterten Ausblick auf ein Existieren im Möglichen und – mehr noch! – im Unmöglichen zu finden? Und wieder andererseits, die neuen Zeiten würden so oder so auch einmal im Burgenbürgerland ankommen und es verändern.“
Ein Buch voll skurriler Szenen und Bilder, ein Buch mit Ironie und tieferer Bedeutung.