Da war jene unwahrscheinliche Erscheinung, dein fast immer betrunkener Zigeuner, den sie Purdi Pista nannten. Er zeigte mir die Brandmarkung von Auschwitz auf seinem Unterarm und eröffnete mir den Blick auf die Welt. Mit seinem biblischen Rauschflüchen wollte er nicht wirklich in das Oberwart der braven Bürger Passen. In mir war indes eine Gier nach einer anderen, nach seiner Welt entstanden.
Aus "Von den Anfängen des Schreibens" (2005)
PETER WAGNER wurde 1956 in Wolfau, nahe der Lafnitz, geboren. Er lebt und arbeitet im Südburgenland und ist seit 1975 freischaffender Künstler. Seine Genres sind Literatur, Film, Theater, Musik, er schrieb über 30 Stücke für Theater und 20 für Rundfunk, die in Österreich, Deutschland, Ungarn, Slowenien und Italien aufgeführt wurden; inszeniert prinzipiell nur Uraufführungen und wurde mehrmals ausgezeichnet, u. a. mit dem burgenländischen Landeskulturpreis für darstellende Kunst, 2007. Übersetzungen ins Italienische, Englische, Spanische, Rumänische, Kroatische, Französische, Ungarische, Georgische und Slowenische.
Seine Bühnenproduktion „71 oder Der Fluch der Primzahl“ eröffnete am 27. August 2017 das Europäische Forum Alpbach. 2018 wurde die Oper „Rattensturm. Angriff auf ein Sinkendes“ (Libretto und Inszenierung: Peter Wagner, Musik: Erling Wold) im klagenfurter ensemble uraufgeführt.
2019 hatte sein Doppelstück „Der 13. Gesang der Hölle“ in eigener Regie seine Premieren einerseits im Rahmen der Kunstaktion FOR FOREST im Wörthersee-Stadion Klagenfurt, andererseits im klagenfurter ensemble.
2021 wurde sein spartenübergreifendes Theaterprojekt „Wir kamen und sie brauchten uns“, eine Fortsetzung und Erweiterung des von Peter Wagner gegründeten ERSTES ÖSTERREICHISCHES DISTANZ THEATER zum Siegerprojekt der neu gegründeten Kärntner Kulturstiftung (Vorsitzender: Martin Traxl) gekürt.
Seit 4. Oktober 2023 ist Peter Wagner offiziell Intendant des Projekts "Landestheater der Autor*innen" innerhalb der Theaterinitiative Burgenland.
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VON DEN ANFÄNGEN DES SCHREIBENS
Text für Dieter Scherr bzw. eine Burgenländische Literaturgeschichte, Mai 2005
Rund um 1968 kehrte mit dem Sender Ö3 tatsächlich soetwas wie ein neuer Geist in die Wohnzimmer meines Oberwart ein. Man hörte schon vor dem Aufbruch in das (vorwiegend von Altnazis dominierte) Gymnasium nicht nur Beatles, man hörte auch Doors, Stones, Hendrix, Joplin, Cream. Ich war damals 12 Jahre alt und schrieb meine erste und einzige “Jazz-Messe”, irgendwo schon dran an einem neuen polyglotten Lebensgefühl, andererseits doch auch festgeklemmt in der ewigen Umklammerung der Provinz, die zunehmend zu reiben begann - bei mir äußerte sich diese Reibung als Bedürfnis zu schreiben oder auf der Gitarre zu klimpern. Da war jene unwahrscheinliche Erscheinung, ein fast immer betrunkener Zigeuner, den sie Purdi Pista nannten. Er zeigte mir die Brandmarkung von Auschwitz auf seinem Unterarm und eröffnete mir den Blick auf die Welt. Mit seinen biblischen Rauschflüchen wollte er nicht wirklich in das Oberwart der braven Bürger passen. In mir war indes eine Gier nach dieser seiner “Welt” entstanden: meine ersten Sommerreisen, die ich mit 16 und 17 unternahm und bis zum letzten Tag der Ferien ausschöpfte, führten mich per Autostopp und Interrail durch ganz Europa, u.a. in Francos Spanien (an jeder Straßenecke eine Gestalt in schwarzer Uniform und an jeder zweiten ein Schwuler, der den blondgelockten Jüngling bis in die U-Bahn verfolgte) und in ein Griechenland der Militärdiktatur. In Thessaloniki geriet ich in meine erste Demonstration, da hielten Soldaten Gewehre mit scharfer Munition auf demonstrierende Bürger an. Natürlich fanden gerade diese Erfahrungen als erste Einlass in die geheim gehaltenen Erzählungen des Pubertierenden. Sie sind freilich längst entsorgt. Aber sie standen immerhin am Anfang jener Sucht, die bis zum heutigen Tag auf mich nieder hämmert.
Und doch war auch mein verschlafenes Oberwart nicht uninteressant: von meinem Fenster im ersten Stock aus konnte ich mitverfolgen, wie die Häuser der Roma in etwa anderthalb Kilometer Entfernung abgerissen wurden und an ihrer statt eine neue Sieldung bestehend aus hässlichen kleinen Betonplattenhäusern noch weiter entfernt vom Ortskern und gleich neben der stinkenden und rauchenden Mülldeponie errichtet wurde. Jahrzehnte später sollte ich erfahren, dass die alten Besitzer der Häuser, alles KZ-Überlebende (von ursprünglich 360 waren 19 zurückgekehrt), die ihnen von der Stadtgemeinde vorgelegten Verträge zu vermeintlichen Verbesserung ihrer Lebensqualität (eine Schimäre!) mit drei Kreuzen unterzeichnet hatten. Ich jedenfalls hatte meinen ewig besoffenen Purdi Pista, der als einziger Zigeuner in der Stadt selbst lebte und sowohl die Schmähung der Roma als auch der Mehrheitsbevölkerung genoss. Er behauptete beharrlich, dass Auschwitz die Hauptstadt der Welt und außerdem überall sei, also auch in Oberwart. So kam die Welt also doch immer noch nach Oberwart zurück!
Aber sie war auch im Hause des Schriftstellers Jan Rys im idyllischen mittelburgenländischen Kaff Unterrabnitz zugegen. Er nahm mich unter seine literarischen Fittiche, ein Purdi Pista der anderen Art, obwohl genauso biblisch und versoffen. Bei ihm traf sich jährlich das “Internationale Hörspielzentrum”, furchteinflößende Zeitgenossen aus halb Europa, die sich eine Woche lang im Krieg an einer mir bis dahin unbekannten Sache wie “Hörspiel” als elitäre literarische Meute stilisierten. Dort durfte ich denn auch im zarten Alter von neunzehn mein erstes langes Hörspiel (ein kürzeres hatte ich ein Jahr davor schon erfolgreich vertrieben) “Purdi Pista sagt, die Cymbal ist tot” vortragen, was sofort Abnehmer bei ARD, ORF und dem Slowenischen Rundfunk fand und mir den Ruf eines Wunderkindes einbrachte. Ein Versprechen, dass ich freilich in keinster Weise einhalten konnte und mir bald schon die ersten tiefen Krisen bescheren sollte. Aber auch das war Bestandteil jener “Welt”, die mich so weit von mir und meinem Land entfernte, dass ich gar nicht anders konnte, als weiter beidem verhaftet zu bleiben: mir und meinem Land. Eine unendliche Reibung in unendlichen Fortsetzungen. Als mich beim Militärdienst, den ich gleich nach dem Verfassen des Purdi-Pista-Hörspiels absolvierte, der Spieß einen “Heimatdichter” nannte, wusste ich, dass er recht hatte.
Und jetzt mag ich nicht mehr weiter schreiben, weil ich spüre, wie unaufgearbeitet das alles letztlich ist. Ich glaube, in “Aktion am Drulitschweg”, einer Erzählung aus dem Jahr 1978, die 1981 im gleichnamigen Erzählband erschienen ist, habe ich eine Art Abrechnung mit meiner Provinz versucht, trotzdem ist meine literarische “Jugend” eine Geschichte, die mir körperlich Bauchweh verursacht. Das was Sie, lieber Herr Scherr, als die “neue Generation von Schreibenden” bezeichnen, war mir sowas von wurscht, “Aufbruch”, “Neuerung”, “Quantensprünge”, “Ära Sinowatz etc.” detto. Das Bewusstsein darauf, mit dem dann das alles relevant werden konnte, passierte bei mir erst mit Beginn der Achtziger, als mir Schreiben alleine nicht mehr genügte bzw. sich als politisch-aktionistische Metamorphose zu gerieren begann.