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Tanz im Spinnennetz – inszeniertes Oratorium

Die Inszenierung

Nach Texten des bosnischen Dichters Kemal Mahmutefendic
entstanden in den Jahren des Krieges 1992/93

Szenische Einrichtung und Inszenierung: Peter Wagner
Musik: Christian Fennesz
Sound-Bearbeitung: Klaus Filip
Übersetzung: Josko Vlasich
Bühne und Raumkonzeption: Wolfgang Horvath
Uraufführung: 13. Dezember 1993, Produktion: Theater Am Ort im Offenen Haus Oberwart (OHO)
Mit Daniela Graf, Georg Kusztrich, Jan Sokol, Josko Vlasich, Kemal Mahmutefendic / Musiker: Christian Fennesz, Klaus Filip
Lichtdramaturgie: Alfred Masal; Totenmasken: Doris Deixler; Kostüm: Christine Schöffler; Außenraumgestaltung: Heryk Rys Mossler; Regieassistenz: Daniel Chaloupka; Produktionsassistenz: Julia Michels; Büro: Beatrix Rehm; Produktionsleitung: Horst Horvath

Kemal Mahmutefendic, geboren 1942 in Sarajewo und dort bis zum Kriegsbeginn 1992 beheimatet, hat bisher etwa 15 Bücher verfaßt, die meisten wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt. Obwohl er über einen an Grausamkeiten und Absurditäten kaum noch überbietbaren Krieg im Europa des ausgehenden Zwanzigsten Jahrhunderts schreibt, ist er kein üblicher Kriegsberichterstatter - er ist Poet und Märchenerzähler. Seine Sprache ist geprägt von Kraft, Wehmut und archaischer Metaphorik, die den Unterton zerstörter und dennoch prinzipieller Hoffnung in sich tragen. Er hat den Krieg gesehen, erlebt, erlitten und ist gegangen; er kennt den Schmerz und schöpft aus ihm; er weiß, dass er Medium einer Sprache ist, die nicht rettet, aber mit großer Leidenschaft ins Bewusstsein dringt, einer Leidenschaft, die schließlich den gesamten unlösbar scheinenden ethnischen und menschlichen Konflikt am Balkan in sich birgt. Und sie bleibt nie anschuldigend alleine: zwar benennt sie die Aggressoren in höchst subjektiver Weise - ohne die Poesie nie existieren könnte -, und doch sucht sie den Täter auch immer in sich selbst.
Dieses Buch wird seinen Leser erschrecken, doch wer den Schrecken erleben kann, wird aus ihm schöpfen - wie der Dichter selbst.

Bei Drucklegung des Werkes bewohnte Kemal Mahmutefendic mit seiner Familie ein kleines Pensionszimmer in Güssing/Südburgenland, in dem auch ein Teil der hier gesammelten Texte entstanden ist.
Über das Buch, dem die Texte des Oratoriums entnommen sind.

Vier fiktive Personen, drei Männer und eine Frau, geraten auf ihrer Reise, vielleicht Flucht, in einen irreal anmutenden, an den Äußerlichkeiten nicht identifizierbaren Raum, in dem sich von Anfang an nur einer aufgehalten hat: der Dichter Kemal Mahmutefendic selbst. Der Raum ist sein Raum, seine Kopfhöhle, sein täglich durchschrittenes, traumatisches Agitationsfeld. Für die Figuren, die Facetten seiner mannigfachen Projektionen, könnte es ein Warteraum sein, der eines Bahnhofes, eines Flughafens, eines Arbeitsamtes. Oder ein Pensionszimmer, eine Grenze, ein Café, eine Zelle, ein Käfig, eine Arena, ja die Sartre´sche Hölle einer Geschlossenen Gesellschaft. Sie alle begegnen einander, wie der Zufall sie zusammengeführt hat, besitzen ihre fundamentalen Erinnerungen aneinander: ein Mensch begegnet im anderen immer auch sich selbst. Sie alle leiden unter der Trennung voneinander, unter der Unmöglichkeit, zueinander zu finden. Und doch ist ihre Sehnsucht nach einer wirklichen Begegnung ungebrochen, ja übermächtig und verzehrend, selbst wenn sie mit Schmerz verbunden ist - in einer Welt, die uns die Illusion geraubt hat, wird der Schmerz schnell zum einzigen Elixier, das uns noch ein Beteiligtsein am Leben suggeriert.

Abgeklärt, suchend, geschäftig, bedrohlich, hoffend wie sie nun alle einmal sind, auch wenn sie das Leben aus ihren wohlbehüteten Höhlen vertrieben und an unbekannte, ängstigende und heimlich erhoffte, letztlich aber doch unerreichbare Ufer gespült hat. Nach ihrer Begegnung, in der sie einander zumindest mit der Ahnung eines auch anderen Lebens beschenkt hatten, werden sie allesamt ihre Koffer wieder nehmen - wissend dass man einen Koffer immer nur kurzweilig irgendwo stehen lassen kann, besonders dann, wenn er niemals ausgepackt wurde. Sie werden weiter ziehen, als wären sie ewig gezogen - einem Sinn folgend, der wie die Sonne unerreichbar am Horizont steht, voller Fragezeichen und doch als einziges konkret vorhanden.

Zurück bleiben wird der reaktionäre Dichter: er kämpft mit existenziellem Trotz und vielleicht mit Erfolg - zumindest in seinem Kopf - gegen die Tatsachen einer sich immer weiter von sich selbst entfernenden Welt.
Peter Wagner, Kopftuch 6

Pressestimmen

Oberwart: Im Stahlnetz des bosnischen Grauens
Oberwart – Plötzlich sind sie da, die vier Exilanten mit ihren Koffern im Café des OHO in Oberwart, das mit weißen Stoffschnüren zu einem Spinnennetz gestylt wurde. Die vier dunklen Gestalten tragen in den Premieren-Smalltalk vorsätzlich eine Art babylonische Sprachverwirrung hinein: Sie murmeln hemmungslos durcheinander, nur das Wort Glück hört man verdächtig oft.
Und damit sind wir mittendrin im Tanz im Spinnennetz, einem „Inszenierten Oratorium“ nach Texten des bosnischen Dichters Kemal Mahmutefendic, entstanden in den Kriegsjahren 1992/93: Die Tränen meines Volkes. Der Autor lebt momentan im Exil in Güssing, und siehe da: Beim Einlass sitzt er einsam auf der Bühne, rauchend, als erster Flüchtling sozusagen. Er wird das ganze Oratorium über sitzen bleiben und mit steinerner Miene seinen Texten über die zerstörte Heimat lauschen.
Im Gegensatz zum Café wird die Bühne von vielen Stahlseilen überspannt (Bühne: Wolfgang Horwath). In diesem ehernen Netz verfangen sich die vier Exilanten, die Autorenkollege Peter Wagner für die Inszenierung der Text erfunden hat. Leider erweisen sich die vier den Anforderungen sprachlich nicht ganz gewachsen. Dazu bedürfte es Burgtheater-Kräfte, aber Oberwart ist nicht Wien.
Dennoch entfalten die beeindruckenden Texte des Bosniers ein poetisch-traumatisches Szenario des Grauens, erzählen von der Erkenntnis des Bösen, von Gräueltaten, Finsternis und Verrat. Dazu malt die Live-Musik von Christian Fennesz peinigende Klangbilder direkt aus dem Inferno. Zum Schluss dann die Verfluchung Europas: „Hure Europa, Missgeburt aus Dividenden und Aktien ...“ Ein Abend, den man nicht so schnell vergessen wird.
Lothar Lohs, DER STANDARD

Tanz im Spinnennetz

Viele bezeichneten das Projekt als ehrgeizig. Manche sahen es. Das Prinzip Hoffnung gibt Anlass zu derselben
„Der Tanz im Spinnennetz – Inszeniertes Oratorium.“ Das Spinnennetz als tierische Struktur des Beutemachens. des Überlebens. Wunderbar kann es in gut geführtem Licht glänzen. Seine Geometrie ist perfekt, tödlich und undurchlässig, schön. Netz hat mit Fangen und Gefangensein zu tun. Hier wurde ein Tanz versucht. Einerseits in Anlehnung an die unabänderliche Geometrie als kreativer roter Faden. Andererseits mit der großen Sehnsucht ausgestattet. den Aufbruch wagen zu können. Aus dem Netz, durch die Netze gehen. Prinzip Hoffnung. Die Möglichkeit hinter dem Krieg, hinter die Bewusstseinshaltung des Beutemachens. Kemal Mahmutefendic. Peter Wagner und Co. gelang ein Meisterwerk an Dualität, poetischer Spannung und Zusammenführung verschiedener Stilelemente. Zudem gab es erstmals auch eine echte Zusammenarbeit zwischen dem Landessüden und dem Landesnorden, wenn auch nur punktuell. Die Musik von Christan Fennesz, wesentlicher Teil des Oratoriums, sprach diese Verbindung aus. Ein weiteres Miteinander zwischen Norden und Süden, der Einsatz des Stilmittels Tanz, scheiterte eigentlich nur an Terminkollisionen.
„Suse moga naroda“. Wer die schwer und sanftmütige Seele der slawischen Sprache in seinem Blut und in seinem Herzen spürt, kann weinen mit den geschundenen Völkern. Die andere Seite, die Wirklichkeit des Krieges vor Ort, hat auch diese Schwermut, dieses unendliche Selbstmitleid, die furchtbare Suche nach der Schuld, die nur beim anderen liegen kann. Die Realität des Krieges im ehemaligen Jugoslawien liefert uns Beispiele von so brutaler Dimension, von solcher Härte der Auseinandersetzung, wie es sie nur im tiefsten Mittelalter gegeben hat. Foltermethoden von genial bestialischer Tiefe. Oh Gott, bist du wirklich groß?!
Die Tränen eines Volkes wurden beim „Inszenierten Oratorium“ geradezu „weinbar“. Die Anwesenheit bei einer der Vorstellungen muss einem die Seele aus dem Leib gerissen haben, falls Seele vorhanden. Wenn nicht, wurde sie vielleicht dort geboren.
Das „Inszenierten Oratorium“ war wirklicher Höhe- und Schlusspunkt. Kapitel 7. Wer kann den Wert dieser Produktion „Friedenskultur II“ in Zahlen gießen? Wer es beurteilen? Sicher nicht das Land Burgenland.
Das Team des Spinnennetzes hat es gewagt, dem Wort Frieden echte und neue Tiefe zu geben: das Prinzip Hoffnung. Danke.
Thomas Vlassits, GESCHRIEBENSTEIN