Schnee über der Notwehr des Mannes
Essay in Der Standard
17./18. Feber 2018
Den Männern fehlt die Einsicht, dass sie Selbstbildern folgen, die andere für sie konstruiert haben. Der Weg zu einer neuen männlichen Identität ist schwierig, ihn zu begehen aber unausweichlich.
Siehe auch "Kreuzigungen. Ein Triptychon" Roman in drei Richtungen >>
A) Konstrukt
„Das verunsicherte Geschlecht äußert sich nicht“, stand vor einigen Tagen auf der Website einer großen deutschen Tageszeitung. Gemeint ist das männliche Geschlecht, das sich dieser Einschätzung nach offenbar schwer tut, seine eigene Position in der aktuellen #MeToo-Debatte zu finden, wenn nicht gar zu behaupten.
Bin ich verunsichert? Eigentlich nicht, denn das Männliche in jener Zivilisation, die man die westliche nennt, ist mir seit meinen frühesten literarischen Erzeugnissen Thema, also etwa seit vierzig Jahren. Mit einundzwanzig verfasste ich eine Erzählung, in der ein Halbwüchsiger einen Mann ermordet, weil er sich von seiner Mutter emotional nicht trennen kann. Lange Zeit weiß er nicht, dass es sich bei dem Gehassten um seinen leiblichen Erzeuger handelt. In einer weiteren, mit „Loch“ übertitelten Erzählung kastriert eine Frau, nachdem sie von einem anderen Mann gedemütigt worden ist, ihren Vergewaltiger im Akt der von ihr provozierten Vergewaltigung mit einer mechanischen Einrichtung, die sie sich in die Scheide eingeführt hat. Immer wieder bekundete das Publikum bei Lesungen einen gewissen Ekel vor dem Text. Manche Frauen waren abgestoßen und fasziniert zugleich.
Ich hatte eine verheerende Pubertät als beginnender Mann und auch später eine tiefe Skepsis patriarchaler Selbstbehauptung gegenüber, sowenig ich selbst frei war von allem möglichen Imponiergehabe. Ich halte auch heute noch den Mann für das eigentlich nicht emanzipierte Wesen. Für ein Konstrukt, dem die tiefere Sicht auf sich selbst in entscheidender Weise fehlt: die Ein-Sicht in die eigene Beschaffenheit als Konstrukt.
Der in eindeutige Richtungen abzielende Drill des Männlichen hatte bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts und darüber hinaus weltweit Konjunktur. So wurden beispielsweise in dem von Reichspräsident von Hindenburg und dem deutschen Kriegsminister von Blomberg 1934 festgelegten Pflichtenkatalog für deutsche Soldaten Attribute wie Tapferkeit, Standhaftigkeit, vorbildliche Härte, Draufgängertum, unerschütterlicher Kampfesmut, schärfstes Nahkämpfen, zähes Aushalten auch in aussichtslosen Lagen festgelegt. Alle diese Eigenschaften zielten natürlich nicht nur auf den Soldaten, sondern auf das generelle Selbstbild des Mannes ab. Dass neben dieser Konstruktion des Mannsbildes auch das männliche Frauenbild eine Konstruktion war (und es auch heute weitgehend ist), erklärt sich mehr oder weniger von selbst.
Neitzel und Welzer zitieren in ihrem Buch „Soldaten“ ein abgehörtes Gespräch, in dem ein in Russland kämpfender Soldat einem anderen erzählt: „Dort, wo Don und Donetz zusammenfließen, da sind wir viel geflogen, da war ich überall. Schön ist die Landschaft – im LKW war ich überall. Da sah man nichts als Frauen, die Pflichtarbeitsdienst machten. ... Straßen haben die gemacht, mordsschöne Mädels – da sind wir vorbeigefahren, haben sie einfach in den PKW hereingerissen, umgelegt und dann wieder rausgeschmissen. Mensch, was haben die geflucht!“
Ich bin der Sohn eines Vaters, der tief in Russland für den Führer marschiert ist, geschossen, gefroren, gehungert und wer weiß was noch getan hat. Er ist in seiner militärischen Ausbildung im Geiste der Attribute für den idealen Soldaten erzogen worden. Und er hat mich, seinen Sohn, erzogen, auch wenn ihm diese Erziehung bald schon entglitten ist. Vielleicht war er ja doch nicht der fanatische Soldat, wie Hitler ihn als Schattenriss des deutschen Menschheitsgenius imaginiert hatte. Und doch war auch das spätere zivile Selbstbild meines Vaters eine Konstruktion: Meine Mutter durfte nicht arbeiten gehen, weil ein Lehrer es nicht nötig hat, seine Frau arbeiten gehen zu lassen. Und als sie noch mit Sechzig den Führerschein machen wollte, hat er es ihr einfach untersagt. Es hat nicht in sein Weltbild gepasst, dass eine Frau lenken sollte.
Hat sich am Selbstbild des Mannes von damals auf heute etwas geändert? Gewiss. Und doch lauert da ein Zweifel. Man studiere beispielsweise die Elaborate Hollywoods über Wehr- und Ehrenhaftigkeit der Kampftruppen der U.S.-Army in Afghanistan und Irak, aber auch jene über die Wallstreet und andere Schlachtfelder des modernen Kapitalismus. Wobei die Pointe darin besteht, der Frau die Konditionierung zur Kampfmaschine genauso überzustülpen wie dem Mann. Insgesamt scheint sich also das rigoros phallische Selbstbild des Mannes eher nicht aufgelöst als vielmehr in eine speziellen Richtung verschoben zu haben: in das Selbstbild des rigoros erfolgreichen Mannes und der phallisch mitziehenden Frau, wobei sich weiterhin der Mann als Machtträger der Gegenwart sieht. Die grundlegend soldatische Konstruktion hätte also überlebt, inklusive des den Männern als Menschheitsbesitz geltenden Rechts, die Frauen „umzulegen“.
B) Genie
Irgendwann in den letzten Jahren habe ich auf einen Zettel notiert: „Genie ist die Notwehr des Mannes“. Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, worin der Anlass für den Gedanken bestand und warum ich es für wert befunden habe, ihn zu notieren. Der Zettel liegt noch immer auf meinem Schreibtisch, brütet irgendwo unter einem Stapel anderer Zettel vor sich hin und macht mir jetzt das Leben irgendwie: schwer. Ganz eindeutig ist mir der Satz unangenehm, auch wenn oder gerade weil er Resultat eines irgendwann konkret vorhandenen Gedankens gewesen sein muss. Finde ich noch eine Fährte zu ihm? Oder kann ich ihn am Ende nicht einmal erklären? Sollte das der Fall sein, warum folge ich dann dem Bedürfnis, ihn hier von der Leine zu lassen, als wollte ich coram publico intellektuellen Selbstmord begehen?
Als ich vor einigen Wochen vom Tweet eines Milliardärs las, in dem dieser als Reaktion auf eine für ihn eher nicht vorteilhafte Buchveröffentlichung behauptete, ein stabiles Genie zu sein, da allerdings hüpfte der Satz ohne jedes weitere Zutun aus dem Stapel der sonstigen nutzlosen Gedanken und kratze mich am Kopf. Derselbe geniale Mensch verkündete zwei Tage später, der am wenigsten rassistische Mensch zu sein, nachdem er mit einer launigen Bemerkung über Scheißlochstaaten der Welt eine neuerlich erhellende Einsicht in ihre wahren Verhältnisse beschert hatte. Zu diesem Zeitpunkt stellte ich noch keinen Zusammenhang zwischen den beiden Behauptungen her, außer dass sie derselben Urheberschaft zuzuordnen waren. Er liegt auch jetzt nicht wirklich auf der Hand, da ich im Fenster stehe und in die Landschaft hinausblicke.
Es schneit bereits den zweiten Tag, ausnahmsweise sogar im südöstlichen Flachland Österreichs. Was das mit diesem Essay zu tun hat? Zunächst gar nichts. Die Schneedecke gefällt sich darin, die Landschaft und ihr eigentliches Aussehen so sehr zu verhüllen, dass sie gerade in ihrer Verhüllung als Landschaft, als die Landschaft in entrückt abstrahiertem Sinne wahrgenommen wird. Passiert mit den Tweets des Milliardärs womöglich etwas Ähnliches? Unter ihrer Verhüllung, die da lautet, ein Genie und kein Rassist zu sein, werden die Konturen des Dummkopfes und des Rassisten mit zwingender Plastizität sichtbar, wie die Landschaft unter dem Schnee. Im Falle des Milliardärs ist das nicht wirklich poetisch, klar, aber es ist doch von einer erhellenden, fiktionalen Unmittelbarkeit, gerade weil sie sich so mittelbar erzählt.
Ich hatte Freunde im Berlin der Achtzigerjahre, ein schreibendes Ehepaar. Beide waren leidlich talentierte Autoren, wobei die Frau ein Stück talentierter war als ihr Mann. Die Rollen in ihrem Arbeitsschema waren so aufgeteilt, dass er die dramaturgische Konstruktion eines Werkes skizzierte und sie diesem Konstrukt den sprachlichen Mantel verlieh. Eines Tages, bereits gegen Ende einer durchzechten Nacht, hörte und sah ich ihn zu ihr sagen: „Eines Tages wirst du zugeben, dass ich ein Genie bin.“ Worauf sie antwortete, durchaus entschuldigend: „Aber ich gebe es doch heute auch schon zu.“
Beide waren sorgsam darauf bedacht, sich zügig selbst zu zerstören. Die Autorin sich durch ihren genialen Dramaturgen, der Geniale sich durch sich selbst. Auch wenn er meinte, dass in Wahrheit ja doch sie ihn umbringe. Das kann schon der Fall gewesen sein, da sie ihn umbrachte, weil er ihr nicht das Wasser reichen konnte. Die Konstruktion des Genies scheiterte an der banalen Tatsache, dass sie besser war als er.
Man kann dem Selbstbefund Truman Capotes: „Ich bin schwul. Ich bin süchtig. Ich bin ein Genie.“ in seiner aufgelegt selbstironischen Diktion ein verstehendes Lächeln beistellen. Man kann in ihm aber auch den verzweifelten Wunsch erkennen, die Koketterie der vermeintlich skandalösen Selbstbezichtigung möge substanziell genug sein, dem etwas hilflos erscheinenden Narziss zuletzt ja doch das Ausnahmewesen zu attestieren, das er nicht wäre, würde er es nicht konsequent genug von sich behaupten.
Das aber macht die Diagnose vom Genie so unbekömmlich: Der Mann giert nach ihr, egal ob sie seiner Selbstsicht oder einer allgemein akzeptierten Beurteilung entspringt. Bei Frauen habe ich dergleichen noch nicht erlebt, und es ist mir bislang auch keine Frau begegnet, die von sich behauptete, ein Genie zu sein. Nicht dass überragende Veranlagungen nicht auf beide Geschlechter in gleicher Weise verteilt wären, doch reflektiert der patriarchale Spiegel das Ausnahmetalent wie selbstverständlich auf den Mann. Wie oft hat man schon vom Genie eines Leonardo oder eines Einstein gelesen und gehört? Und wie oft von jenem der Hildegard von Bingen oder der Madame Curie?
Was also steckt, über alle sonstige Hybris hinaus, in den psychischen Eingeweiden eines Mannes, der sich als stabiles Genie bezeichnet – und bezeichnen darf, ohne dass die Welt umkommt vor Lachen?
Ich behaupte nicht, dass ich es wüsste, zumal besagter Milliardär mit Präsident im Nebenberuf es vermutlich selbst nicht weiß, auch wenn er mit manchen seiner Gewissheiten sogar die Haie erschreckt. Einem gewissen Verdacht möchte ich dennoch nachgehen.
C) Usurpation
Ich war fünfundzwanzig, als ich Vater wurde. Die Schwangerschaft meiner Lebensgefährtin war, ausgemacht: unser beider Schwangerschaft. Und sie war, noch mehr und durchaus nicht ausgemacht, weil erst nachträglich als solche erkannt: meine Schwangerschaft. Das Schlagwort von der sanften Geburt geisterte durch die Chiffren der sich selbst als alternativ bezeichnenden Gemeinschaften, und es gab auf der Gebärstation im Krankenhaus Oberpullendorf auch so etwas wie ein Labor für einen anderen Eintritt ins Leben als den bisher gewohnten und für reichlich lieblos gehaltenen.
Keine Frage also, dass man sich während der Schwangerschaft mit einer gewissen Leidenschaftlichkeit auf die bevorstehende Geburt einstellte und auch entsprechend vorbereitete. Leboyers Bücher lagen nicht nur am Nachkästchen, sie wurden auch gelesen. Am eifrigsten von mir. Am Tag der Geburt, der ich selbstverständlich beiwohnte, wollte ich mindestens so viel, wenn nicht mehr vom Handwerk der Geburtshilfe wissen als die Hebamme. Und ich wollte auch nicht nur von meinen eigenen Befindlichkeiten im Akt des Gebärens präzise Kenntnis haben, sondern mehr noch von jenen der gebärenden Frau: Ich war, nachträglich gesehen, besessen von etwas, das mir im Biologischen nicht gegeben und im Metaphysischen nur mittelbar erfahrbar war.
Ich hatte nie das dezidiert als solches empfundene Bedürfnis, eine Frau zu sein. Oder hatte ich es doch, damals während der Schwangerschaft meiner Lebensgefährtin, wenn auch auf der Ebene des gänzlich Sublimen und Uneingestandenen? Habe ich damit womöglich ein Muster reproduziert, dass in den Tiefenschichten der patriarchalen Gesellschaften sein durchaus produktives, wenn auch nicht als solches erkanntes Eigenleben führt, ja sogar der eigentliche Antrieb der patriarchalen Revolution vor tausenden Jahren gewesen sein könnte, wie immer diese auch durch das plötzliche Wissen um die Bedeutung des männlichen Spermas zustande gekommen sein mag und jedenfalls in der Usurpation des Weiblichen bestand, um seiner umfassenden Bedeutung für das Leben buchstäblich Herr zu werden? Ich würde heute nicht zögern, meine damaligen Versuche, mir die Schwangerschaft der Mutter meines Kindes intellektuell einzuverleiben, als existenzielle Eifersucht auf eine Potenz zu bezeichnen, die mir als Mann weder gegeben noch durch egal welche genialischen Winkelzüge erreichbar ist.
Bleiben wir noch kurz bei der Hebamme. Barbara G. Walker meint, dass die Geburtshelferin selbst in christlicher Zeit eine Monopolstellung innehatte, „weil sich die meisten Männer vor den unter Tabu stehenden Geheimnissen der Geburt fürchteten.“ Gerade Hebammen hatten unter der phallischen christlichen Religionspraxis und dem Verbrechen der Inquisition am grausamsten zu leiden. Ab dem 19. Jahrhundert wurden sie von der männlich vereinnahmten medizinischen Praxis überhaupt in den Hintergrund gedrängt und mehr oder weniger entmachtet. Der Zugriff auf das Geheimnis der Geburt durch den Mann war und ist in seiner direktesten Absicht ein Zugriff auf die Macht der Frau.
Ist nicht auch gerade die sexuelle Belästigung der Frau durch den Mann - noch vor aller Vergewaltigung - ein Zugreifen als Grabschen, ein Anfassen des so Begehrten wie Unbewältigten, ein Hingreifen auf die in den psychischen Unterschichten des Mannes gar nicht harmlose Vagina dentata oder Pussy, wie sich der Milliardär mit dem Zungenschlag des Idioten auszudrücken pflegt und wie das angeblich jeder Frau gefällt? Passiert nicht selbiges, nur in gesellschaftlich akzeptierter, weil poetisch und ins abstrakt Sinnliche gehobener, mitunter unterhaltsamer, mitunter anspruchsvoller und von den Frauen selbst ja auch goutierter Weise in den Werken der Dichter und Künstler, die einen wunderbaren Kanonen des Zugriffs auf Frauen, ja deren Einverleibung durch die Fantasie des Mannes geschaffen haben, in dem allerdings sowohl der Zugriff als auch die Einverleibung geduldet sind, weil sie nur die Chiffre des Eros und somit als erotisches Angebot unverdächtig bleiben? Ist nicht also die Frau nach wie vor das, was den Mann am meisten beschäftigt, weil sein instinktiver Verdacht, im Grunde ein Mangelwesen zu sein, ihm in zahllosen unbewussten Regungen zusetzt wie kaum etwas anderes? Ist also, zuletzt, nicht auch und gerade die Frau der Mittelpunkt seiner uneingestandenen Ängste, über die all die wunderbar konstruierten Krücken seiner vermeintlichen Selbstsicherheit, seines Bedürfnisses nach Dominanz, seines unverhohlenen Machtanspruchs, seines Ehrgeizes als Erfinder, Umsetzer, Macher, Rennfahrer und Astronaut, seiner eitlen und peinlichen Selbstsicht als Genie hinweghelfen sollen? Kennt jemand die Angst der Männer vor der Frau, dort wo sie gezwungen sind, aus sich selbst als Stabilität verleihendes Konstrukt herauszutreten?
Viele Frauen werden solch eine Sicht nicht akzeptieren. Weil es ihnen um faktische Veränderung geht und nicht um den Blick auf das Problemfeld Mann in seiner nicht emanzipierten, infantilen, narzisstisch und genialisch konditionierten Eifersucht. In ihren Augen wird er damit alleine zurecht kommen müssen, ohne dafür ein weiteres Mal die Frau zu missbrauchen. Solch ein Reflex ist verständlich, bringt uns aber nur bedingt weiter.
Denn nach wie vor sind es in einem erheblichen Ausmaß die Frauen, die die Söhne erziehen. Es könnte sein, dass dieses Ausmaß sich noch weiter steigert, sobald auch in anderen kulturellen und religiösen Biotopen die Bastionen des männlichen Gewaltmonopols erodieren, da sie längst nicht mehr unhinterfragbar sind.
Der Weg des Mannes zu einer Neuerfindung seiner Identität, die ihm existenzielle Gewissheiten jenseits des überkommenen Manneskonstrukts ermöglicht, wird allerdings kein einfacher und auch kein kurzer sein. Und er wird partiell ein zerstörerischer und gewalttätiger sein, wie uns die Attentate auf Malala Yousafzai und die vielen anderen Aufgebrochenen nahelegt. Doch zeigt uns gerade ihr Beispiel, in jeder Hinsicht weit dramatischer als das von #MeToo, dass der Prozess unumkehrbar ist.