atem; aus; atmen
Paraphrase auf „71 oder Der Fluch der Primzahl“
Performance für das Europäische Forum Alpbach nach dem Theaterstück über die Tragödie von Parndorf am 27. August 2015 unter Verwendung der Texte von 21 AutorInnen, der Interviews mit 15 an der Aufarbeitung der Tragödie beteiligter Personen und der Motive zahlreicher bildender KünstlerInnen
Szenische Einrichtung und Regie: Peter Wagner
Mitwirkende: Bella Ban, Tania Golden, Georg Leskovich, Gernot Piff, Petra Staduan;
Komposition und Bandoneon: Ferry Janoska
Uraufführung: Culture First der Politischen Gespräche, Eröffnung 1; 27. August 2017, 14:00 Uhr, Europäisches Forum Alpbach
breath; out; breathing _ atem; aus; atmen - Trailer Performance Forum Alpbach 2017 >>
Gesamtaufzeichnung des Stücks "71 oder Der Fluch der Primzahl" >>
PRESSE
Alles kreist um 71 Tote
Politik. Genau heute vor zwei Jahren wurde bei Parndorf ein LKW mit 71 erstickten Flüchtlingen gefunden. Mit einem Stück darüber eröffnet Peter Wagner die Politischen Gespräche.
Von Bernadette Bayrhammer, 27.08.2017
„Ich war in Alpbach zu dieser Zeit, die Berge schön und blau, die Sonne hell, das Forum Alpbach eben“, schreibt die Schriftstellerin Theodora Bauer über jenen Tag vor zwei Jahren. Und dann diese Nachricht: ein Lastwagen, der in einer Pannenbucht bei Parndorf gefunden worden war, ein Kühltransporter voller toter Flüchtlinge. 71 Menschen sollten später gezählt werden, die in dem LKW auf der Fahrt in ein vermeintlich sicheres, neues Leben erstickt waren. „Keinen Gedanken konnte man fertig denken. Man musste aufhören, bevor man überhaupt damit begonnen hatte. Was vorgegangen war da drinnen“, das schreibt Bauer über den 27. August 2015 in Alpbach.
Heute, auf den Tag genau zwei Jahre später, kommt die Tragödie von Parndorf, die über die Grenzen von Österreich hinaus für Erschütterung sorgte, nach Alpbach: Der burgenländische Autor und Regisseur Peter Wagner hat aus den Texten von 21 Schriftstellerinnen und Schriftstellern – darunter Theodora Bauer –, sowie Gesprächen mit Polizei, Rettungskräften, Bürgermeister oder Bestatter ein Theaterstück gemacht, das im Jänner uraufgeführt wurde: „71 oder der Fluch der Primzahl“, auch im Sinne der ersten Zahl, des ersten Mals, dass eine solche Katastrophe auf europäischem Boden stattfand.Eine Paraphrase des Stücks eröffnet heute die Politischen Gespräche.
Ein Kasten aus Plexiglas
Alles kreist um einen Plexiglaskasten in der Mitte der Bühne, der genau die Menge an Luft fasst, die jeder einzelne Flüchtling im Lastwagen zur Verfügung hatte. Und in den sich die Performancekünstlerin Bella Ban hineingezwängt hat, was sich auch im Titel des Eröffnungsstücks widerspiegelt: „atem; aus; atmen“. In der ursprünglichen Fassung spielte sich das Stück rund um einen Kobel in der Größe des LKW-Laderaums ab. Wobei dieses Umkreisen in der Inszenierung natürlich kein Zufall ist.
Denn es geht darum, was bei diesem Unglück in den Menschen rundherum vorgegangen ist. „Wie hat unsere Gesellschaft, unsere Gegenwart, unsere Wirklichkeit auf diesen Vorfall reagiert?“, sagt Wagner, der ganz bewusst davon absah, direkt auf die Verstorbenen zu fokussieren. Das sei die einzige Vorgabe an seine Autoren gewesen: nicht über den Inhalt des LKW zu schreiben. „Ich hätte eine gewisse Scheu davor gehabt, die 71 Toten emphatisch zu missbrauchen, ihre Geschichte zu erzählen, mich in sie hineinzudenken“, sagt er.
In Parndorf sei man von der Idee einer künstlerischen Aufarbeitung nicht von Anfang an überzeugt gewesen, erzählt er. „Wozu brauchen wir ein Theaterstück?“, habe es da geheißen. Am Stammtisch diskutiere man über das Versenken der Schlauchboote im Mittelmeer. Was wolle man denn mit einem Theaterstück erreichen? „Mein Argument war, dass man letztlich, so gewaltig dieser Schock war, solche fatalen Zeichen als Chancen aufgreifen soll, um der Welt etwas von ihren gefährdeten und gefährdenden Seiten zu erzählen.“ Solche Katastrophen könne man nur überwinden, wenn man sich ihnen stelle.
„Mir ist so etwas wie ein kathartischer Moment wichtig“, sagt Wagner. „Die Möglichkeit, noch einmal zu erschrecken, den Schrecken noch einmal zu durchleben, um ihn einfach besser in den Griff zu kriegen. Und eine gewisse Läuterung, wenn nicht sogar Reinigung zu erfahren.“ Gleichzeitig sei dieser kathartische Moment ja das Aufwachen. „Und man nimmt sich selbst als Figur im Geschehen der Welt wahr und bekommt möglicherweise die Ahnung, dass man nicht nur ohnmächtig ist. Dass man auch so etwas wie Haltung entwickeln kann“, sagt er.
Eine Message im klassischen Sinn hat Wagner mit seinem Stück aber nicht und zwar ganz bewusst nicht: Es gehe um Sensibilisierung – nicht um Indoktrinierung. „Ich schreibe jetzt seit 30 Jahren Theaterstücke und ich war besessen von Message. Davon bin ich so etwas von weg“, sagt er. Hätte er mit seiner Truppe und dem aktuellen Stück versucht, Parndorf im Bezug auf richtiges Verhalten oder richtige Weltsicht zu belehren, wären sie auf jeden Fall gescheitert. „Gerade die Botschaften, die expressis verbis sagen, was sein soll, gehen oft an der Sache vorbei. Weil man da sofort mit einer Gegenmessage antworten kann.“
Das Theaterstück um die Tragödie von Parndorf soll auch ein immaterielles Mahnmal für die 71 Toten sein. „Als wir acht Monate nach dem Unglück den Einfall hatten, das künstlerisch zu verarbeiten, hatte die Gemeinde noch immer keine Vorstellung, wie man ein Zeichen des Gedenkens setzen sollte“, sagt Wagner. „In der Pannenbucht? Auf dem Friedhof? Das passt alles nicht.“
Ein materielles Mahnmal
Am Forum Alpbach gibt es gewissermaßen auch ein materielles Mahnmal: Der transparente Würfel, in dem Bella Ban bei ihrer Performance mehr und mehr Mühe hat, zu atmen, soll während der gesamten Politischen Gespräche auf dem Podium stehen bleiben.
When 71 is a deadly number
The glass box stands in the middle of the stage. One meter tall, one meter wide, one meter deep. Inside was enough oxygen to breathe for 20 minutes. The box demonstrates the amount of space – and air the 71 refugees had in the truck, found abandoned on Austria’s A4 motorway between Neusiedl and Parndorf on August 27th in 2015. They all were found dead.
“My intention is not to shock or unsettle people. I want to sensitize because it is dangerous to react with fear and ignorance towards refugees and the influx of people Europe is facing”, said director Peter Wagner in an interview with Alpbuzz.
The event shocked the whole world. Among the dead people were a baby girl and three other children. They all tried to make their way to Europe – with the help of smugglers. The performance “Breathe” by Peter Wagner zooms in on how the local community in Parndorf reacted.
“I don’t use the tragic event that occurred in Parndorf to tell the story of 71 dead people, but to demonstrate how we, as a society, react,” Mr Wagner said.
The performance is based on texts by 21 writers and interviews with about 15 people. The performance combined video and live-stage play and made the audience hold their breath. Creating the play was a tough task for Director Wagner: “I wanted to end the project three times but I always decided to continue working on it in order to see where it leads me to. “
To him, the performance also serves as a reminder of the continued immigration crisis, which in this year’s Forum has not received much attention, Mr Wagner said.
The glass box stands in the middle of the stage. One meter tall, one meter wide, one meter deep. Inside was enough oxygen to breathe for 20 minutes. The box demonstrates the amount of space – and air the 71 refugees had in the truck, found abandoned on Austria’s A4 motorway between Neusiedl and Parndorf on August 27th in 2015. They all were found dead.
“My intention is not to shock or unsettle people. I want to sensitize because it is dangerous to react with fear and ignorance towards refugees and the influx of people Europe is facing”, said director Peter Wagner in an interview with Alpbuzz.
The event shocked the whole world. Among the dead people were a baby girl and three other children. They all tried to make their way to Europe – with the help of smugglers. The performance “Breathe” by Peter Wagner zooms in on how the local community in Parndorf reacted.
“I don’t use the tragic event that occurred in Parndorf to tell the story of 71 dead people, but to demonstrate how we, as a society, react,” Mr Wagner said.
The performance is based on texts by 21 writers and interviews with about 15 people. The performance combined video and live-stage play and made the audience hold their breath. Creating the play was a tough task for Director Wagner: “I wanted to end the project three times but I always decided to continue working on it in order to see where it leads me to. “
To him, the performance also serves as a reminder of the continued immigration crisis, which in this year’s Forum has not received much attention, Mr Wagner said.
“Every convention like European Forum Alpbach has its main focus, and I don’t have the feeling that “refugees” and “migration” are this year’s focus.”
Among the audience the performance drew strong reactions, and on Twitter, where Josef Lentsch wrote: “Sehr starker und bedrückender Beginn von #efa17: multimediale Kunstintervention zu den 71 toten Flüchtlingen in Parndorf 2015”
Peter Wagner insisted it was important to take up the topic because we will face the situation again: “We do know, that we will face the same situation in a year and in five years time it might get even worse”.
By Emil Staulund Larsen and Daniela Prugger
Ein Tag, der Europa veränderte
Ein Theaterstück über die Flüchtlingstragödie bei Parndorf eröffnet die Politischen Gespräche.
Plötzlich war Theodora Bauer aus ihrer heilen Welt gerissen. Am 27. August 2015 war sie gerade Stipendiatin beim Forum Alpbach. Im Fernsehen liefen aber nur Bilder aus Parndorf. 71 Flüchtlinge waren qualvoll in einem Kühllaster gestorben und an der Autobahn im Burgenland gefunden worden. „Alpbach kam mir an diesem Tag wie ein Paradies vor, das mir nicht zusteht“, sagt sie.
Die 27-Jährige ist Schriftstellerin, am Montag erscheint ihr zweiter Roman „Chikago“. Auf Bitte des Regisseurs Peter Wagner hat die Burgenländerin auch einen Text zu dessen Stück „71 oder der Fluch der Primzahl“ beigesteuert. Sie ist eine von 21 AutorInnen. „Wir haben uns das wirklich gedacht, die Welt tangiert uns nicht dort oben. Dort oben sind wir sicher“, ist ein Satz aus ihrem Text, in dem es um Alpbach, Parndorf und die Verantwortung Europas geht.
Europa und das „Modell Schildkröte“
Am Sonntag wird Wagner mit einer 28-minütigen Fassung des zweistündigen Stücks die Politischen Gespräche in Alpbach eröffnen. Die Premiere im Jänner in der Volksschule in Parndorf war ein intensives Ereignis für alle. „Der Saal war ausverkauft, trotzdem hätte man während der Aufführung eine Nadel fallen hören können“, sagt Wagner. Der Applaus am Ende war minutenlang. Wagners hehres Ziel ist ein kathartischer Moment im Publikum. Es meint damit nicht unbedingt „Reinigung“ wie die alten Griechen, aber einen Augenblick der Entlastung und der eindringlichen Auseinandersetzung mit dem Tod der 71 Menschen.
Theodora Bauer war im Sommer 2015 so betroffen, dass sie im vergangenen Jahr nicht nach Alpbach kam und erst jetzt zurückkehrte. „Auch ohne meine persönliche Geschichte ist es total sinnvoll, dass dieses Stück nach Alpbach kommt“, sagt sie. Die vielen Tode im Burgenland hätten dazu beigetragen, dass die Grenzen vor zwei Jahren geöffnet wurden. Zur Entwicklung der europäischen und österreichischen Flüchtlingspolitik findet Bauer: „Wir setzen auf das Modell Schildkröte, ziehen uns in den Panzer zurück und machen die Augen zu.“ Die Frage der Legitimität von Migration, die in der österreichischen Innenpolitik oft im Fokus steht, führe zu nichts. „Die Menschen kommen einfach. Weil Menschen ja ein gutes Leben wollen und nicht nur vegetieren.“
Wagners Hoffnung in Alpbach
Regisseur Wagner meint: „So eine Tragödie ist jederzeit wieder möglich, gerade auch durch die restriktiveren Bestimmungen.“ Und er hofft, dass die PolitikerInnen und EntscheidungsträgerInnen im Elisabeth-Herz-Kremenak-Saal auch so einen Moment erleben wie im Jänner die Parndorfer, in dem ihnen das Schicksal der Toten nahe geht. „Ich hoffe, dass die 28 Minuten in Alpbach die Kraft haben, um diesen Moment zu erreichen“, sagt Wagner.
www.alpbach.org
Director´s Trailer >>
Official Trailer >>
71 oder Der Fluch der Primzahl - Stück >>
71 oder Der Fluch der Primzahl - Inszenierung >>
Kontakte und Informationen
Künstlerische Leitung: Peter Wagner 0664 / 412 10 79, office@peterwagner.at
Für organisatorische Rückfragen: Alfred Masal 0676 / 948 20 48, alfred.masal@oho.at
PR-Materialien: RABOLD UND CO., 03352 20212, presse@rabold.at
Druckfähige Fotos zum Downloaden >>
Buchbestellung des erschienen Begleitbuches
71 oder Der Fluch der Primzahl
224 Seiten, Schweizer Broschur mit sichtbarer Fadenheftung, 21 x 28 cm
ISBN 978-3-902931-08-5 / EUR 33,00
www.edition-marlit.at