71 oder DER FLUCH DER PRIMZAHL
Die Inszenierung
Theaterstück über die 71 Toten, die am 27. August 2015 in einem Kühl-LKW an einer Pannenbucht bei Parndorf entdeckt wurden.
Nach Texten von 21 burgenländischen AutorInnen und Interviews mit 15 GesprächspartnerInnen rund um die Aufarbeitung der Katastrophe sowie Bildmotiven von Dutzenden KünstlerInnen des eu-art-network-Workshops
Szenische Stückeinrichtung und Inszenierung: Peter Wagner. / Musik: Ferry Janoska.
DarstellerInnen: Tania Golden, Gernot Piff, Petra Staduan, Georg Leskovich, Bella Ban (Bühnenmitwirkung und Kostüm)
Technische Ausführung in allen Bereichen: Georg Müllner / Regieassistenz: Isa Nemeth /
Produktionsleitung und Ausführung Bühne: Alfred Masal
Eine Produktion der Theaterinitiative Burgenland in Koproduktion mit dem Offenen Haus Oberwart und der Gemeinde Parndorf
Uraufführung: 4. Jänner 2017 / 19:30 Uhr / Volksschule Parndorf
Folgeaufführungen im ORF-Eisenstadt, Oberwart (OHO) und Großwarasdorf (KUGA)
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Wozu ein Theaterstück?
Es ist der 27. August 2015. Die Medien in ganz Europa berichten über einen Kühltransporter, der bereits seit zwei Tagen an einem Pannenparkplatz auf der Autobahn bei Parndorf abgestellt ist und aus dem die Leichenflüssigkeit einer zunächst unbekannten Anzahl seit Tagen toter Menschen tropft.
Seit diesem Tag ist der Name der Gemeinde Parndorf, des am schnellsten wachsenden Ortes im Burgenland, nicht nur mit einem Outlet-Center verbunden, sondern mit einer Katastrophe, wie sie nicht bezeichnender am Beginn eines Herbstes stehen könnte, der unter dem Überbegriff „Flüchtlingswelle“ seitdem ganz Europa in Atem hält.
Autor und Regisseur Peter Wagner über die Beweggründe zu einem Theaterstück, an dem letztlich eine halbe Hundertschaft von Menschen, vornehmlich des Burgenlandes, mitwirkt:
„Die allererste Anregung kam von Johann Maszl, dem Obmann des Theater Sommer Parndorf. Er fragte mich, warum ´die Kunst´ noch nichts über die 71 Toten von Parndorf gemacht habe. Das war ein Fingerzeig, an dem ich nicht vorbeikonnte. Als ich dann, nur wenige Tage später, das mittlerweile von der Theaterinitiative Burgenland projektierte Stück ’71 oder Der Fluch der Primzahl’ dem Parndorfer Bürgermeister und seinem Amtsleiter vorstellte, äußerte ich die Ansicht, dass es vom kollektiven Selbstbewusstsein einer Gemeinde zeuge, wenn sie die Katastrophe nicht nur als (menschliche) Tragödie betrachte, sondern vor allem auch als Chance: der Welt etwas von ihren gefährdeten und gefährlichen, vorder-, hinter- und abgründigen Seiten zu erzählen – um vor allem Sensibilität auf Gründe, Gefahren und Möglichkeiten zu erzeugen, die Europa in den Jahren der sogenannten Flüchtlingskrise heimsuchen. Und dass dieses Selbstbewusstsein letztlich auch von der Öffentlichkeit in ganz Österreich, ja möglicherweise darüber hinaus honoriert würde. Denn tatsächlich sei das, was sich nahe Parndorf Ende August 2015 ereignet habe, kein ‚Parndorfer Problem‘, sondern ein gesamteuropäisches.“
Es geht um das Rundherum
Das Konzept, wie die Thematik auf eine Bühne, respektive in einen Raum transferiert werden sollte, stand rasch fest: Ein grauer Quader in der exakten Größe des LKW-Kühlkoffers, um den herum sich das Stück entfaltet.
Schließlich hat Peter Wagner 21 burgenländische Autorinnen und Autoren eingeladen, die Katastrophe von Parndorf in Texten zu verarbeiten, wobei das Augenmerk nicht auf den INHALT des Quaders gelegt werden soll, sondern auf das RUNDHERUM.
Eine dieser Autorinnen und Autoren ist Theodora Bauer:
„In meinem Text versuche ich mich der Sprachlosigkeit, die dieser Vorfall ausgelöst hat, mit Worten zu nähern. Ein schwieriges Unterfangen. „alpbach in strömen“ stellt für mich ein beständiges Scheitern am Kern der Sache dar, an dem absolut Unverständlichen, daran, dass 71 Menschen in einem entwickelten Land im 21. Jahrhundert auf derart bestialische Weise ihr Leben lassen mussten. Dieses Scheitern ist unausweichlich. Das Unaussprechliche, dem wir in Form dieser Tragödie begegnet sind, zeigt uns Grenzen auf – Landesgrenzen, unsere eigenen Grenzen, Grenzen der Sprache, Grenzen des Verstehens, gleichzeitig auch Grenzen der Reaktion, der Politik, des politischen Handelns, der Erinnerung daran, jetzt, fast eineinhalb Jahre danach.“
Außerdem ließ Wagner im Sinne eines interaktiven Prozesses die Autorinnen und Autoren Interviews mit 15 GesprächspartnerInnen vor Kamera führen, unter anderen mit dem Bürgermeister von Parndorf, mit dem für den Fall verantwortlichen Leiter des Landeskriminalamtes, mit dem leitendenden Staatsanwalt, mit dem Leiter der für den Abtransport der 71 Leichen zuständigen Bestattung Wien und mit einer freiwilligen Helferin aus Parndorf.
Regiekonzept und Musik
Die 21 Texte werden von Peter Wagner gemeinsam mit den zugespielten Interviews zu einer Collage verwoben, die mit Unterstützung von Live-Kameras als „intendierte sinnliche Strapaze“ in Szene gesetzt wird.
Das Wechselspiel zwischen aufgezeichneten Sequenzen und Live-Übertragungen ermöglicht nicht nur die beabsichtigte Umkreisung des Themas, es erlaubt der Inszenierung und den DarstellerInnen - in fast unendlichen Möglichkeiten - dialogische Interaktionen und geplante bzw. erwünschte Irritationen mit virtuellen, weil von der Rückseite des Quaders eingespielten Szenen, Dialogen und Sprachanteilen.
Der Komponist und Musiker Ferry Janoska ist in Neusiedl/See, dem Nachbarort Parndorfs, zu Hause. Selbst mit Roma-Wurzeln versehen und Flüchtlingskind – er wurde als Achtjähriger aus der einstmals kommunistischen Slowakei im Benzintank eines Autos nach Österreich geschmuggelt –, wurde er von Peter Wagner gebeten, die Musik nicht als Trauer-, sondern als Lebensmusik beizusteuern. Zudem bedient sich Janoska auch arabischer Instrumente, deren musikalische Handhabung er eigens für diese Produktion erlernte.
Die Autorinnen und Autoren
Christoph Andexlinger, Klaus-Jürgen Bauer, Theodora Bauer, Clemens Berger, Robert Frittum, Michaela Frühstück, Petra Ganglbauer, Karin Ivancsics, Katharina Janoska, Saskia Jungnikl, Siegmund Kleinl, Johann Maszl, Wolfgang Millendorfer, Petra Piuk, Sophie Reyer, Reinhold Stumpf, Claudia Tebel-Nagy, Katharina Tiwald, Susanne Toth, Peter Wagner, Wolfgang Weisgram
Theaterinitiative Burgenland
„71 oder der Fluch der Primzahl“ ist eine Produktion der Theaterinitiative Burgenland, die sich unter anderem der zentralen Aufgabe des Theaters – insbesondere des zeitgenössischen Theaters – annimmt, „das ‚Drama‘ der Gegenwart auf der Bühne zu verhandeln“, so der Obmann der Initiative Reinhold Stumpf. „Wie wichtig und drängend dieses Ereignis mit seinen Folgen für das Burgenland war und ist, lässt sich u. a. an der Tatsache erkennen, dass fast alle von den Autorinnen und Autoren geforderten Texte für das Stück innerhalb von zwei Wochen zur Verfügung standen. Denn obwohl seit dem Sommer 2015 in der politischen wie gesellschaftlichen Debatte kaum ein Tag vergangen ist, an dem das Thema „Flüchtlingskrise“ nicht präsent war, schien der LKW von Parndorf mit seinen 71 Toten schon bald wieder dort abgestellt worden zu sein, wo er am wenigsten stört: in der kollektiven Verdrängung.“
Kooperation mit OHO und Gemeinde Parndorf
Die Zusammenarbeit zwischen dem Offenen Haus Oberwart und der Theaterinitiative Burgenland hat sich schon bei vorangegangen Projekten bewährt, und so greift man auch dieses Mal – vor allem in organisatorischen und technischen Belangen – auf die Erfahrung des OHO zurück.
Aufgeführt wird „71 oder der Fluch der Primzahl“ am Ort des Geschehens – in der Gemeinde Parndorf. Der Initiative des Parndorfer Bürgermeisters Wolfgang Kovacs ist es zu verdanken, das das Projekt im Gemeinderat behandelt und in weiterer Folge finanziell unterstützt wird. In einem Vorgespräch mit Peter Wagner haben Wolfgang Kovacs und sein Amtsleiter Otto Lippert zugegeben, dass sie in jenen verhängnisvollenTagen „an der Grenze ihrer psychischen Belastbarkeit“ gestanden sind.
Bürgermeister Wolfgang Kovacs: „Dieses erste Gefühl, dass 71 Menschen in unserem Dorf auf furchtbare Art gestorben sind, lässt sich einfach nicht beschreiben. Es war erschütternd, einfach unvorstellbar. Danach dieses absurde erlösende Gefühl, dass diese Menschen bei uns ‚nur‘ gefunden wurden, aber nicht gestorben sind. Was bleibt, ist das Wissen um die größte menschliche Tragödie in unserer Gemeinde seit dem zweiten Weltkrieg. Wir wollten ein Mahnmal setzen für eine friedliche Welt. Nun wurde es ein kulturelles Mahnmal, welches wohl weitaus weiter wirken wird.“
Nach Aufführungen im Offenen Haus Oberwart zog die Theaterinitiative Burgenland aus, um auch das ORF-Landesstudio mit Siegmund Kleinls wortgewaltigem Stück zu bespielen. Und dieses Wort – eindringlich verkörpert durch Gernot Piff – reißt mit. Kleinls Text ist keine Demontage des Mythos, sondern eine Re-Montage, inklusive Seitenhieben. Peter Wagners Inszenierung mit Videoinstallationen bringen zur Musik Ferry Janoskas ein wichtiges, wuchtiges Stück Theater auf die Bühne.
Pressestimmen
Erfolgreiche Premiere von „71“
Hochdramatisch, satirisch, dem Populismus nachempfunden, aber auch sehr poetisch sind die Texte, die Peter Wagner in eindrückliche Bilder umgesetzt hat. ... Dem Ensemble, den 21 Autorinnen und Autoren und den 71 Toten von Parndorf erwies das Publikum bei der Uraufführung seinen Respekt, in dem es sich zum Applaus von den Sitzen erhoben hat.
ORF-Burgenland Premierenbericht
Hommage an 71 Tote Flüchtlinge
Berührende Aufarbeitung der Flüchtlingstragödie im Theaterstück „71 oder Der Fluch der Primzahl“. Das mit viel Fingerspitzengefühl gestaltete Theaterstück gilt als kultureller Gedenkstein für die unfassbare Tragödie, bei der 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder auf dem Weg in ein vermeintlich besseres Leben qualvoll ums Leben kamen.
Kurier
Theater baut dem Unsagbaren ein Denkmal
„71 oder Der Fluch der Primzahl“ bewegt sich permanent zwischen Schwere und der Möglichkeit zum Aufatmen, sucht die Grenzen und ist der Versuch, den Opfern auf der Bühne ein immaterielles Denkmal zu schaffen.
Salzburger Nachrichten
Bewegende Premiere
Fünf Darsteller – Bella Ban, Tania Golden, Gernot Piff, Petra Staduan und Werner Wultsch – wechseln zwischen gespenstischer, nonverbaler Präsenz und starken Dialogen. Das Konzept geht auf. Am Ende bleibt ein Theaterabend, der – bei all der Tragik des Themas auch reich an Schauwerten – betroffen macht, aufwühlt und in dem die Sprache der Kunst auf gewisse Fragen auch eine Antwortmöglichkeit liefert.
NÖN
Kunst an der Endstation
Auf der Leinwand wird die Entdeckung der Leichen, ihre Bergung, Identifizierung, Heimführung in Interviews nacherzählt. Die Überforderung durch den Massentod hinterließ Spuren. Lebenswahr ist ausgemalt, wie Flüchtlinge in ihren Handys ihre Familiengeschichte, ihr Familiennetzwerk bergen. Die Parade der Maßnahmen der Amtsträger und Helfer - Elke Boschner betreut noch heute in Parndorf Flüchtlinge - ist Medizin gegen die Ohnmacht, die sich jeder eingestehen muss: Ohnmacht gegenüber dem Unfassbaren des Eingeschlossenseins, Erstickens, massenhaften Verderbens.
Wiener Zeitung
Gedenktheater
Die Videos und sehr unterschiedlichen Textgattungen – vom abstrakten Gedicht über die Gameshowpersiflage – hat Wagner zur zweistündigen Performance „71 oder Der Fluch der Primzahl“ verwirbelt, die sich entsprechend abwechslungsreich, informativ und dank der Live-Musik von Ferry Janoska auch nicht übermäßig deprimierend ausnimmt.
Der Falter