Skip to main content

Der 13. Gesang der Hölle

Materialien zu einem Doppelstück für Stadion und Theater

Der 13. Gesang der Hölle
von Peter Wagner
Uraufführung

Eingerichtet als Paraphrasen auf Dante Alighieri und die Installation „FOR FOREST. Die ungebrochene Anziehungskraft der Natur“ von Klaus Littmann

Abend 1: Der 13. Gesang der Hölle - Außengesang
Wörthersee-Stadion Klagenfurt
Premiere: Donnerstag, 3. Oktober 2019, 20:00 Uhr

Abend 2: Der 13. Gesang der Hölle - Innengesang
klagenfurter ensemble, Klagenfurt
Premiere: Freitag, 4. Oktober 2019, 20:00 Uhr

Vorbemerkung

Abend 1: Außengesang und Abend 2: Innengesang der Produktion „Der 13. Gesang der Hölle“ sind kommunizierende Gefäße: Sie stehen in ihrer vertikal künstlerischen, „nach oben hin offenen“ Ausrichtung für mehr oder weniger selbständig nebeneinander existierende Einheiten, die in ihrem horizontalen Untergrund miteinander verbunden sind und so einen Ausgleich zwischen den Gefäßen schaffen. Dieser Ausgleich stellt eine direkte Rückbezüglichkeit der beiden Abende zueinander her, d.h. unser inneres Augenmerk ist auf den horizontalen Untergrund gerichtet, unser äußeres auf die je individuelle Ausrichtung der beiden Abende.

Für das Publikum ist es nicht unbedingt nötig, beide Abende zu erleben, denn tatsächlich fordert jeder Abend in seiner künstlerischen Behauptung einen autonomen Selbstwert ein. Die letztgültige Rezeption ist allerdings nur in der Synthese der beiden Abende zueinander möglich. Somit besteht das Angebot an das Publikum in drei möglichen Erlebnisakten: a) Abend 1: Außengesang, b) Abend 2: Innengesang und die c) gemeinsame Mitteilung aus Abend 1 und Abend 2.

Detailseite zur Inszenierung "Außengesang" >>
Detailseite zur Inszenierung "Innengesang" >>

Aufzeichnung "Außengesang" im sendefähigen Format >>
Aufzeichnung "Innengesang" im sendefähigen Format >>

 

Die Vision Dantes: eine Synthese aus
volkstümlicher und theologischer Hölle

Wie groß der Erfolg der bisherigen Visionen auch gewesen sein mag, die Vision Dantes aus dem 13. Jahrhundert bleibt unerreicht. Wenn man sie im chronologischen Rahmen dieser Literaturgattung betrachtet, nimmt die Göttliche Komödie lediglich ein banales Thema auf, das eigentlich schon verbraucht ist. Nach Gilgamesch, Odysseus, Drycthelm, Tungdal, Owein und vielen anderen — was kann man noch in der Hölle entdecken? Alle Schrecken und Qualen sind bekannt, und Dante erfindet kaum neue: Oft waren seine Vorgänger sogar besser — oder schlimmer —, soweit es um die Qualen geht.

Das Werk Dantes ist an der Grenze zwischen volkstümlicher Hölle und theologischer und intellektueller Hölle einzureihen. Von der ersten übernimmt er die Bilder, von der zweiten die logische Schärfe. Diese Verbindung von Konkretem und rationaler Klarheit ist der Hauptgrund für den Erfolg. Die bisher besuchten Höllen waren ein Chaos mit einer wirren Topographie, echte Traumlandschaften, bestehend aus Tälern, Flüssen und Seen, Qualen und widersprüchlichen Geschichten, ohne jeglichen Zusammenhang. Hölle und Fegefeuer waren unentwirrbar miteinander verstrickt, selbst wenn die jüngeren Darstellungen theoretisch eine Trennung der verschiedenen Stufen aufwiesen. Die Höllenfauna war bunt zusammengewürfelt aus Drachen, monströsen Untieren, echten Tieren und Dämonen. Die Strafen waren zwar je nach der Verfehlung unterschiedlich, hatten jedoch kaum eine Beziehung zu der Art der begangenen Sünden. Dante organisiert, strukturiert, klassi- fiziert und ordnet. Seine Hölle ist geometrisch, in konzentrische Kreise eingeteilt. Es gibt einen Eingang, einen Vorraum, Mauern, Gemächer, einen Ausgang, gekennzeichnete, bewachte Passagen. Je nach Beschaffenheit des Ortes bewegt man sich zu Fuß, im Nachen, auf dem Rücken eines Zentauren, in der Hand eines Riesen fort. Seen, Flüsse und Sümpfe sind logisch angeordnet, die Zeitangaben genau. Dantes Hölle ist ein riesiges intellektuelles Gebäude nach dem Bild der theologischen Summen seiner Zeit. Er ist ein visionärer Thomas von Aquin; beide klassifizieren sie und ordnen ein, der eine die Bilder, der andere die Ideen. Das Werk dieser beiden Italiener ist kennzeichnend für die Scholastik. Die Summa und die Hölle sind rationale Gebäude und unabweisbar, sobald man ihre Prämissen anerkennt.

Bei Dante sind die drei Reiche des Jenseits klar getrennt. Das Purgatorium ist nun definitiv installiert, es ist autonom geworden, sowohl auf dem Gebiet der Visionen als auch auf dem des Dogmas. Dies ist zweifellos ein riesiger Bruch, denn es beraubt die Hölle eines großen Teils der Kundschaft, eben der Nicht-ganz-Schlechten und der Nicht-ganz-Guten, die hinfort alle zu den künftigen Auserwählten gehören. Die Hölle betrifft nur noch die in Ewigkeit Verdammten, die Frage der Ewigkeit der Strafe ist also gelöst, und zwar im positiven Sinn: »Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren«, steht an der Höllenpforte geschrieben.

Der Aufbau der Hölle Dantes ist in vielen Schemata und Struktu- ren beschrieben worden. Wir wollen ihn hier in großen Zügen nachzeichnen: Zunächst kommt ein Vorhof, in dem alle Feigen und Unentschlossenen eingesperrt sind. Von hier gelangt man in die obere und äußere Hölle, die außerhalb der Mauern der Stadt Dis gelegen ist. In fünf Kreisen sind hier alle jene zu finden, die Sünden gegen die Enthaltsamkeit begangen haben, nach Schwere der Vergehen geordnet: Im ersten Kreis befinden sich die Heiden und die Ungläubigen; im zweiten die Schamlosen und Lasterhaften; im dritten die Fresser und Prasser; im vierten die Geizigen und die Verschwender; im fünften die Zornigen.

Nach dem Durchschreiten des Styx-Sumpfes betritt man durch die Ringmauern die Stadt Dis, die untere Hölle. Dort trifft man auf die „positiven Sünder“, der Begehungssünden schuldig, welche schlimmer sind. Hier gibt es vier Kreise, die unterteilt sind. Im sechsten Kreis befinden sich die Häretiker; im siebten die Gewalttätigen. Letztere werden in verschiedene Sparten eingeteilt: gewalttätig gegen den Nächsten, seine Person und seine Güter; gewalttätig gegen sich selbst (Selbstmörder und Vergeuder ihres Eigentums); gewalttätig gegen Gott (Gotteslästerer); gewalttätig gegen die Natur (Sodomiten); gewalttätig gegen die Kunst (Wucherer). Im siebten Kreis sind also jene eingeschlossen, die dem Nächsten durch Gewalt geschadet und der Ungerechtigkeit Vorschub geleistet haben.

Auf der anderen Seite der großen Schranke, zum Mittelpunkt der Hölle zu, im achten Kreis, befinden sich die Betrüger, die, wie Dante es nennt, »Wolfssünden« begangen haben. Der achte Kreis ist in zehn konzentrische Gräben eingeteilt, die durch Deiche getrennt sind und stufenweise zum Erdinnern hinabführen. Hier finden sich die Verführer, Ehebrecher, der Simonie Schuldigen, Wahrsager, unehrlichen Kaufleute, Heuchler, schlechten Ratgeber, Streitstifter und Fälscher, letztere wieder eingeteilt in Metallfälscher, Geldfälscher, Personenfälscher und Wortfälscher. Nachdem man das Gebiet der Riesen durchschritten hat, kommt man ins Herz der Hölle, den Mittelpunkt der Erde, den neunten Kreis, wo sich die Verräter befinden. Auch hier vier Unterteilungen, die entsprechend benannt sind: nach Kain (Verrat an Verwandten), nach Antenor (Verrat des Vaterlandes), nach Ptolemäus (Verrat an Gästen), nach Judas (Verrat am Wohltäter). Der Mittelpunkt der Erde ist Luzifer selbst, riesengroß und behaart, der für alle Ewigkeit Judas in Stücke reißt. Das Ganze sieht aus wie ein riesiger Trichter in einer Halbkugel, zu Satans Nabel hin öffnet. Auf der anderen Seite führt ein verborgener Weg wieder zum Berg der Reinigung, zum Fegefeuer, das auf der anderen Erdhälfte Jerusalem gegenüber liegt.

Aus Georges Minois: Die Hölle. Zur Geschichte einer Fiktion, München 1991, S 211

 

Anmerkungen zur Hölle

Ich sah einen Ort, einen ganz düsteren. Dies war der Ort der Strafe, und die dort gestraft wurden, wie auch die strafenden Engel, trugen das finstere Gewand. Und etliche waren dort an ihrer Zunge aufgehängt. Das waren die, welche den Weg der Gerechtigkeit gelästert hatten, und unter ihnen lag Feuer, das loderte und quälte sie. Und es war ein großer See da, gefüllt mit brennendem Schlamm, in welchem etliche Menschen steckten, und quälende Engel setzten ihnen zu. Es war aber auch andere da: Frauen, an ihren Haaren über jenem kochenden Schlamm aufgehängt. Das waren die, welche sich zum Ehebruch geschmückt hatten. Die Männer aber, welche sich zur ehebrecherischen Befleckung mit ihnen vereinigt hatten, waren an den Füßen aufgehängt und hatten ihre Häupter mit Schlamm, und mit lauter Stimme riefen sie: „Wir hätten nicht geglaubt, an diesen Ort zu kommen.“ Und ich sah die Mörder und ihre Mitwisser in eine Schlucht voll giftigen Gewürms geworfen und geplagt von jenen Tieren und so sich windend in ihrer Qual. Die Seele der Ermordeten aber standen dabei, schauten die Strafe jener Mörder und sprachen: „O Gott, gerecht ist dein Gericht“.
Petrusapokalypse

Wenn ihr nun auf die Ungläubigen stoßt, dann schlagt sie auf den Nacken! Wenn ihr sie schließlich vollständig niedergerungen habt, dann legt sie in Fesseln ... Und denen, die auf dem Weg Gottes getötet werden, ihr Wirken wird nicht umsonst gewesen sein. Es wird sie rechtleiten, alles für sie in Ordnung bringen und sie ins Paradies eingehen lassen, das er ihnen zu erkennen gegeben hat.
Koran 47, 4-6

Marlows Faust ist schon kein eindeutig verwerflicher Sünder mehr, sondern ein eindrucksvoller Repräsentant der neuen Zeit, ja: ein selbstbewusster Renaissancemensch. In einem der ersten Dialoge erzählt ihm der Teufel, sein Wohnsitz sei ja traditionell die Hölle, worauf Faust ihn fragt: „Wie kommt´s dann, dass du außerhalb der Hölle bist?“ Darauf antwortet Mephistoteles mit einem schlagenden Satz: „Ich bin nicht außerhalb, dies hier ist Hölle.“ („Why this is hell, nor I out o fit.“) Das ist ein anschauliches Zeugnis der neuzeitlichen Verlegung des Teufels ins Innere des Subjekts und der Hölle in die Welt. ... Faust II ist das Drama des modernen Erfindungsgeists und der von ihm entfesselten Produktivität. (...) Die Innovationssucht der Moderne, die wahrhaft nihilistische Dynamik eines Fortschreitens, das Natur gnadenlos vernutzt, herkömmliche Lebenswelten planiert und in einem immer schnelleren Wandel auch das neu Hervorgebracht sogleich wieder veralten lässt, hat Goethe mit Schrecken und Trauer erfüllt. Er sah darin eine infernalische Kreativität der Gattung Mensch sich entfalten. Das belegt der schöne Begriff, den er für die neue Epoche der Industrialisierung prägte: es war für ihn das „veloziferische“ Zeitalter. (...) Die moderne Hochleistungsgesellschaft, in der heute ja mehr denn je unter dem Losungswort „disruption“ zerstörerischer Erfindungsgeist gefragt ist, erscheint so tatsächlich als eine Hölle auf Erden.
Manfred Koch

„Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr mich durchschreitet“, so steht es in großen Buchstaben über dem Höllentor geschrieben. Die göttlichen Strafen werden von menschähnlichen Kreaturen vollstreckt, und sie wirken durch Furcht, die jene haben, die in der Hölle noch nicht angekommen sind. So war es immer schon. Die Hölle als Abschreckungsbild, als Ort der Endgültigkeit, aus dem es kein Entkommen gibt. „Man brennt etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt“, schreibt Nietzsche über die Zurichtung des Menschen. „Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“ Was aber weh tut, muss einem zugefügt werden. Irgend jemand muss das Feuer entfachen und anfachen, das die Qualen verursacht. Die Hölle ist menschlich, das Paradies ist es nicht.
Jörg Baberowski

Hunderttausend Narren unserer Art, die Hüte tragen, bringen hunderttausend andere Tiere um, die Turbane tragen, oder von ihnen abgeschlachtet werden und das ist nahezu auf der ganzen Erde seit undenklichen Zeiten Brauch gewesen. Der Streit geht um ein paar Schmutzhaufen ... und nicht etwa, dass ein einziger unter all diesen Millionen Menschen, die sich niedermetzeln lassen, auch nur einen Strohhalm von diesem Schmutzhaufen forderte. Es handelt sich lediglich darum, herauszubekommen, ob er einem gewissen Manne gehören soll, der Sultan genannt wird, oder einem andern, der aus irgendeinem Grunde Caesar genannt wird. Keiner von beiden hat jemals das Fleckchen Erde gesehen, um das es geht, noch wird er es jemals zu Gesicht bekommen; und fast keins der Tiere, die sich gegenseitig töten, hat jemals das Tier erblickt, für das es sich töten lässt.
Voltaire

Die drei Personen, die Sie in Geschlossene Gesellschaft hören, sind insofern nicht wie wir, als wir lebendig sind und sie tot. Natürlich, ´tot´ symbolisiert hier etwas. Ich wollte einfach zeigen, dass viele Leute in einer Reihe von Gewohnheiten und Gebräuchen verkrustet sind, dass sie Urteile über sich haben, unter denen sie leiden, die sie aber nicht einmal zu verändern versuchen, und diese Leute sind wie tot, insofern sie den Rahmen ihrer Probleme, ihrer Ambitionen und Gewohnheiten nicht durchbrechen können. ´Die Hölle, das sind die anderen´ bedeutet, wenn meine Beziehungen schlecht sind, begebe ich mich in eine totale Abhängigkeit von den anderen und dann bin ich tatsächlich in der Hölle, und es gibt eine Menge Leute auf der Welt, die in der Hölle sind, weil sie zu sehr vom Urteil anderer abhängen. Aber das heißt keineswegs, dass man keine anderen Beziehungen zu den anderen haben kann. In welchem Teufelskreis wir auch immer sind, ich denke, wir sind frei, ihn zu durchbrechen. Und wenn die Menschen ihn nicht durchbrechen, dann bleiben sie wiederum aus freien Stücken in die Hölle. Sie sehen also, Beziehungen zu anderen, Verkrustungen und Freiheit, das sind die drei Themen des Stücks.
Jean Paul Sartre

Urplötzlich stellt sich heraus, dass, was die menschliche Phantasie seit Jahrtausenden in ein Reich jenseits menschlicher Kompetenz verbannt hat, tatsächlich herstellbar ist. Hölle und Fegefeuer und selbst ein Abglanz ihrer ewigen Dauer können errichtet werden, indem man Menschen mit den modernsten Mitteln der Destruktion und der Heilkunst unendlich lange sterben lässt.
Hannah Arendt

Einstein erklärt: der Mensch soll sich aus dem Gefängnis seiner Selbstbezogenheit befreien. Er kann es, denn er muss nur damit aufhören, seinem intuitiven Bewusstsein der Zugehörigkeit zum Ganzen zuwiderzuhandeln und es zu verraten. Das ist Einsteins Formulierung der Sünde wider den Heiligen Geist. Auch bei Einstein bedeutet diese Sünde zugleich die Stra- fe: Naturzerstörung, Menschenfeindschaft, Selbstverrat.
Wenn die moderne Zivilisation auch weiterhin den in sich selbst gefangenen Menschen begünstigt und zur Voraussetzung hat, wird sie, so Einsteins düstere Prognose, in der Selbstzerstörung enden müssen, und zwar deshalb, weil die geistige Verarmung des Menschen - der Transzendenzverrat - einhergeht mit einem ungeheuren Wachstum seiner technischen Fertigkeiten.
Rüdiger Safranski über Einstein

Die Hölle der Lebenden ist nicht etwas, was sein wird; gibt es eine, so ist es die, die schon da ist, die Hölle, in der wir tagtäglich wohnen, die wir durch unser Zusammensein bilden. Zwei Arten gibt es, nicht darunter zu leiden. Die eine fällt vielen recht leicht: die Hölle akzeptieren und so sehr Teil davon werden, dass man sie nicht mehr erkennt. Die andere ist gewagt und fordert dauernd Vorsicht und Aufmerksamkeit: suchen und zu erkennen wissen, wer und was inmitten der Hölle nicht Hölle ist, und ihm Bestand und Raum geben.
Italo Calvino

Schwein heißt pig, pig kommt von picken, pick, pick, pick, und sie umfasste meinen Nacken und drückte meine Nase ins Vokabelheft, pick, pick, pick, so wirst du dir´s merken. Ich merkte es mir. Zuweilen konnte ich mit einem Schrei aus einem Traum auffahren, spürte noch den Griff von der Hand meiner Mutter im Nacken, spürte noch den Schlag von der Hand meiner Mutter an meiner Backe, hörte ihre rasende Stimme, sah ihren Zeigefinger neben mir auf die Tasten des Klaviers niederfahren, um mir den richtigen Ton anzuzeigen, den Ton, den ich nicht hatte finden können, und sie fand ihn auch nicht, ihr Finger hackte daneben, die Dissonanz schrillte noch in meinen Ohren.
Peter Weiß


Siegmund Kleinl

Eine Menschliche Tragikomödie

Peter Wagners Drama Der 13. Gesang der Hölle – Innengesang

Peter Wagners Drama Der 13. Gesang der Hölle – Innengesang hat als literarischen Hintergrund den 13. Gesang der Hölle aus Dantes Göttlicher Komödie. Weltpoesie trifft auf herausfordernde Gegenwartsliteratur: eine Ästhetik im Miteinander der Differenzen.

Sind bei Dante die Selbstmörder Verdammte, die nach mittelalterlich kirchlichen Vorstellungen Höllenqualen erleiden, weil sie durch ihre Tat tödliche Schuld auf sich geladen haben, so sind bei Wagner die Selbstmörder eher Opfer als Täter, wobei die Schuldfrage weitgehend offen bleibt.
Der Autor moralisiert nicht, er stellt Konflikte der Menschen so dar, dass Fragen aufgeworfen werden mit dem Effekt, dass ein in sich geschlossenes, die Komplexität nivellierendes Gesellschaftssystem aufgebrochen wird. Diese Geschlossenheit der hierzulande einzigen Gesellschaftsform des Liberalismus ohne befreiende Öffnungen nach außen ist eine grundlegende Form der Hölle.

Die Kulisse zu Beginn des Stückes ist die gleiche wie bei Dante: ein Wald. Der Wald steht in seiner Weglosigkeit und Undurchschaubarkeit symbolisch für orientierungslose Aporie, ein Synonym für Hölle.

In Wagners Tragikomödie werden die verschiedenen Suizidarten durchgespielt: Selbstmord aus Verzweiflung, Massensuizid einer Sekte, Selbstmordattentäter und andere Formen.
Dem Autor gelingt die schwierige Balance zwischen Reflexion und psychischer Gestimmtheit der auftretenden Personen, Mittelwesen zwischen Individualität und Typus.
Sie sind nicht Menschen aus Fleisch und Blut, sondern Stimmen, Sprachrohre, Schatten.

Wie es bei dem Florentiner Dichter des Spätmittelalters verschiedene Kreise der jenseitigen Hölle gibt, so beim Dramatiker des 21. Jahrhunderts unterschiedliche diesseitige Formen der Hölle:
Ein auftretender Coach nivelliert alles zu gleicher Gültigkeit. Gleichgültigkeit ist eine Form der Hölle.
Eine andere das Tödliche eines absoluten Wahrheitsanspruchs. Wieder eine andere und vielleicht die grundlegende Form der Hölle ist die Isolation.
Diese findet eine formale Entsprechung in der Komposition des Stückes als Stationen-Drama.
Jede Szene verkörpert für sich eine Hölle. Jede einzelne steht isoliert in Bezug auf ein transzendentes, unsichtbares Ganzes, das freilich in Frage steht.
Gibt es das traditionelle theologische und philosophische Ganze noch?
Die Szene Der rätselhafte Suizid Gottes scheint die Frage zu verneinen. Eine neue Variante vom Tod Gottes. Jetzt nicht mehr wie bei Nietzsche: Gott ist tot, und wir haben ihn getötet. Sondern: Gott tötet sich selbst.

(Das wirft existentielle Fragen auf: Ist die Hölle die Sprachlosigkeit eines selbstmörderischen Gottes?
Lässt sich gar der Selbstmord rechtfertigen durch dessen Suizid?
Ist seine Ohnmacht die Befreiung des Menschen? Sollte Gott nicht ganz aus dem Spiel bleiben, weil er den Menschen nichts mehr sagt?
Fragen, die lange nach dem Ende der Moderne aus dieser Szene erneut herausgelesen werden könnten.
Ist es auch das Ende der Postmoderne im Sinn von bloß formalem Spiel mit Verfahrensweisen und Themen?)

Wenn im Stück Peter Wagners an manchen Textstellen die Kausalität des Gedankenflusses unterbrochen wird, ist es nicht bloß Spiel mit einer auf die Romantik zurückgehenden Verfahrensweise, vielmehr ein notwendiges formales und inhaltliches Element, da ja im Drama das Nichtrationale verhandelt wird.

Die sich u.a. aus solcher Nichtlogik ergebende Widersprüchlichkeit der Aussagen ist ein durchgehendes Sprach- und Formprinzip des Stückes.
(Ist nicht diese unauflösliche Widersprüchlichkeit die Hölle?)

So sehr die einzelnen Szenen auch geschlossen für sich stehen mögen, ist das Stück gleichzeitig nach allen Seiten offen. Literarhistorisch durch den Bezug auf Dantes Göttliche Komödie. Weiter durch  das raffinierte Zusammenspiel von Zitaten aus Literatur und Philosophie mit Gedanken des Autors. Durch diese Öffnung auf die Geistesgeschichte einerseits und Anspielungen auf gegenwärtige Ereignisse andererseits wird die Menschliche Tragikomödie Peter Wagners zu einem Welt-Theater. 

Den höllischen Ernst des Themas, der zur Qual werden kann, die das Denken eher blockiert als freisetzt, unterläuft der Autor durch einen ironischen, sarkastischen, teilweise auch humorvoll- witzigen Unterton. Diese virtuose Sprachführung erzeugt eine Ambivalenz, manchmal auch Polyvalenz des Gesagten.

(Am Ende fließt in dieses provokante, formal und inhaltlich außergewöhnliche Stück Licht, als lichte sich der Wald des Anfangs, um, wie das Klagenfurter Fußballstadion, wieder (be)spielbar zu sein.)

Letztlich endet alles in der Fülle des Nichts oder der Leere, was, ohne Mystizismus, an die Tradition der Mystik erinnert.
Im Blick auf den Schluss ließe sich das Stück auch als hochaktuelles Mysterienspiel verstehen, das das Mysterium des suizidalen Todes und des Phänomens Hölle umkreist und durchdringt, einerseits entmythologisiert, andererseits auch bewahrt.
Das Bewahren des Geheimnisses verleiht dem Stück eine ganz eigene Aura, die über die spannende inneren Dramatik hinaus vor allem durch starke poetische Bilder evoziert wird.

Ein Stück uneingeschränkter Kultivierung existentieller und gesellschaftspolitischer Wirrnisse.

 

Fragen an den Autor und Regisseur eines Doppelstücks

Ihr sogenanntes „zweifach dramatisches Begängnis“ mit dem „Außengesang“ im Rahmen der Waldinstallation FOR FOREST im Wörthersee-Stadion Klagenfurt und mit dem „Innengesang“ im Klagenfurter Ensemble entstand, wie sie erzählten, aus einem Missverständnis. Wie kam es dazu?

Ich war von Anfang an angetan von Klaus Littmanns Absicht, den Rasen der Spielfläche im Klagenfurter Wörthersee-Stadion mit einem Wald zu drapieren. Dass ich nun im Zuge dieser Installation ein Stück im Wörthersee-Stadion inszeniere, und nicht nur eines, sondern alternierend ein zweites im klagenfurter ensemble, beruht aber tatsächlich auf einer ursprünglichen Fehlannahme von mir. Im Sommer 2018 erging seitens des Projektinitiators eine Einladung an Künstler und Kulturinitiativen, sich in ihren jeweiligen Bereichen an dem Projekt FOR FOREST zu beteiligen. Ich interpretierte das in die Richtung, ein Stück direkt für die Waldinstallation im Stadion zu erarbeiten – und konfrontierte Littmann im Sommer 2018 mit der Idee, eine Anregung aus Dantes Göttlicher Komödie für ein noch zu verfassendes Theaterstück aufzunehmen. Ich wollte das Stück im projektierten Stadionwald mit Schauspielern inszenieren und dann mit mehreren Kameras in den Zuschauerbereich im Stadion übertragen. Daraus wurde aus sicherheits- und bewässerungstechnischen Gründen nichts. Also entwarf ich erstens ein Stück für den Außenbereich des Waldes, also das ihn umgebende Stadion, den sog. „Außengesang“, aus dem nun eine Art „Sound-Oper“ mit optischen Assists wurde. Zweitens verfasste ich einen Theatertext, den „Innengesang“, den ich mit Schauspielern im Theater erarbeite, und zwar auf einer Bühne, die das Innere eines abstrakt stilisierten Waldes darstellt. Dort verhandeln die Selbstmörder, gefangen in einem Ort ohne konkrete Identität, einen Aspekt der derzeitigen Conditio Humana: Verlorenheit in der Sehnsucht nach Lebensinhalt, Sehnsucht nach Verlorenheit und Selbstaufgabe, Hybris und Angst in den vielen Schattierungen unserer Gegenwart.

Was eint Ihre beiden Stücke – außer Ihrer Person –, was trennt sie?

Beide Stücke beziehen sich in gewisser Weise auf Dante, wobei ich im „Außengesang“ neben aufgezeichneten Videos mit kurzen Passagen aus meinem „Innengesang“ auch Textzitate aus dem gesamten Inferno, 2014 neu übersetzt von Katharina Tiwald, verwende, wodurch der Höllencharakter unserer Gegenwart eher in den Fokus gerät. Der „Innengesang“ hingegen bezieht sich speziell auf ein bestimmtes Kapitel des Inferno, nämlich den 13. Canto, in dem die Selbstmörder und Verschwender in Bäumen eines unwirtlichen Waldes stecken und dort auf Ewigkeit gefangen sind. Hier hat sich die Analogie zu Littmanns Stadionwald geradezu aufgedrängt. Allerdings war mit Dantes Vorgaben dramaturgisch so gut wie nichts anzufangen, weil ja Dante sämtliche Querverweise auf Personen und Situationen seiner Zeit bezogen hatte, die uns heute weitgehend fremd, wenn nicht überhaupt unverständlich sind. Dennoch war die Grundidee, Menschen, die sich selbst das Leben nehmen, und solche, die sich durch ihre Verschwendungssucht der Grundlage für ihr Leben berauben, eine äußerst verführerische und im Grunde ja auch eine aufgelegte Metapher für unsere Gegenwart, die mittlerweile die kapitalste aller unserer Ressourcen, den Planeten selbst, in unbeschreiblicher Hybris und Gier ruiniert und damit eine Art Suizid am gesamten Menschengeschlecht betreibt.

Ein Stadion, das 30.000 Personen fasst, bietet ganz andere Möglichkeiten der räumlichen Inszenierung als ein Theater. Was ist das Faszinierende daran, was die Herausforderung?

Es ist richtig, dass ein Stadion andere Möglichkeiten bietet. Vor allem dann, wenn man ein paar Millionen Euro im Rucksack hat und unter Einsatz von Tonnen an Technik und Material ein Spektakel inszeniert, wie das von den Rolling Stones bis zu Rammstein ja auch geschieht. Ein freies Theater in Klagenfurt hat diese Möglichkeiten nicht, man muss also weitgehend mit dem auskommen, was da ist. Das impliziert aber zugleich die Notwendigkeit, wesentlich subtiler zu arbeiten, als dies jedes andere Spektakel der Unterhaltungsindustrie tut. Und genau dort liegt der Reiz, ein Stadion sozusagen der Literatur und dem Theater zuzuführen und – wie Littmann und Peintner es für die bildende Kunst mit der Waldinstallation gemacht haben – innerhalb seiner ganz anderen Wesensbestimmung der Paradoxie der Formen, Ästhetiken und Inhalte Raum zu verschaffen; uns das Spiel vor dem vermeintlich ernsten Hintergrund aller unserer inhaltlichen Überlegungen zurückzuerobern, und zwar in einer Weise, wie das vor uns noch niemand gemacht hat.

I: Hybris und Angst in den vielen Schattierungen unserer Gegenwart kommen im „Innengesang“ zur Sprache. Wovor fürchten sich die Menschen Ihrer Meinung nach heutzutage am meisten? Und wovor sollten sie sich tatsächlich fürchten?

Ich möchte mich zur Beantwortung Ihrer Frage, deren eingehender Erörterung ich den hunderttausend schon geschriebenen Büchern noch das Hunderttausendunderste hinzufügen könnte, einer Passage meines „Innengesangs“ bedienen. Es handelt sich um einen Ausschnitt aus mehreren Gebeten:

Heilige Katharina, bewahre uns
vor der Angst vor der Leere im Herzen genauso
wie vor der Angst vor den Viren der Versuchungen im Kopf.
Bewahre uns vor der Angst
vor den Leeregefühlen des Überdrusses
genauso wie vor der Angst vor der Unträumbarkeit
all unserer kommenden Träume.

Heilige Katharina, bewahre uns
vor der Angst vor unbewohnter Nähe genauso
wie vor der Angst vor der alles durchdringenden Einsamkeit.
Bewahre uns vor der Angst vor der Deutlichkeit der Botschaften
genauso wie vor der Angst vor dem Unverständnis
für all die eindeutigen, weithin leuchtenden Zeichen.

 Im Zuge der beiden Stücke ist auch ein Film im Entstehen. Wovon handelt er?

Ich habe Menschen, die mir aus diesem oder jenem Grund interessant erschienen, und die  DarstellerInnen des 13. Gesangs vor die Kamera gebeten und sie um ihre Einschätzung der Höllen bzw. der Höllen der Gegenwart gebeten. Ich nenne den Film „Dialog mit der Hölle“, weil die Interviewten am Ende ihrer Ausführungen auf meine Bitte hin auch eine direkte Ansprache an die Hölle halten. Einen Teil davon werde ich als Vorspann zum „Innengesang“ in der Lounge des Theaters zeigen. Es war für mich jedenfalls eine unerwartete Erfahrung, wie unterschiedlich die Meinungen der Individuen im Bereich des Abgründigen sein können. Da hat wirklich jede/r einzelne einen völlig anderen Zugang, der offenbar stark im individuellen Wesen einer Person verankert ist, jedenfalls stärker als etwa sonstige politische Einschätzungen, bei denen man oft auf einen gewissen Konsens zurückgreift. Bei der Einschätzung von Hölle als persönlichem Erfahrungsbereich des Individuums gibt es zwar auch Konsens (etwa Sartres oft zitierter und missverstandener Satz „Die Hölle, das sind die anderen“), aber sobald es um die Suche nach dem eigenen Zugang geht, ist davon nichts mehr zu spüren. Die Hölle verfügt also nebst einigen anderen Qualitäten auch über jene, das Individuum an seine sonst ja oft verdeckte Eigentlichkeit heranzuführen.

Das Interview mit Peter Wagner führte Sandra Osztovits.